Der gute Stil
Nach den Engeln zuletzt tritt hier wieder einer auf: Eduard Engel, geboren 1851 in Stolp in Pommern, gestorben 1938 bei Potsdam. Er legte 1911 seine 1000-seitige Deutsche Stilkunst vor, die ich mir demnächst ausleihen will, denn es soll ein Lesevergnügen sein. Wie kam ich eigentlich darauf?
Es kam ganz spontan. Ich las meiner Mutter Märchen vor und wählte Aschenputtel aus. Man liest das ja selten. Den Anfang fand ich meisterhaft hinskizziert. Es ist schlicht, volksnah und gefühlvoll geschrieben: guter Stil! Die Grimms (Jacob und Wilhelm) sammelten Märchen und starben zehn Jahre nach Engels Geburt.
Einem reichen Manne, dem wurde seine Frau krank, und als sie fühlte, dass ihr Ende herankam, rief sie ihr einziges Töchterlein zu sich ans Bett und sprach: »Liebes Kind, bleib fromm und gut, so wird dir der liebe Gott immer beistehen, und ich will vom Himmel auf dich herabblicken und will um dich sein.« Darauf tat sie die Augen zu und verschied. Das Mädchen ging jeden Tag hinaus zu dem Grabe der Mutter und weinte und blieb fromm und gut. Als der Winter kam, deckte der Schnee ein weißes Tüchlein auf das Grab, und als die Sonne im Frühjahr es wieder herabgezogen hatte, nahm sich der Mann eine andere Frau.
Damit beginnt das Unheil. Geschehnisse zusammenzufassen und in klarer Sprache abzubilden, lernt man im Journalismus. Ich studierte, um ein guter Schreiber zu werden, die Berichte von Heinrich Heine aus Paris (1830 bis 1850) und war fasziniert von seinem Einsatz des Semikolons (;), der heute fast verschwunden ist. Als ich bei dpa in Hamburg zur Probe mitarbeitete, musste ich tagelang Berichte straffen und raffen: aus 30 Zeilen 15 machen und 40 Zeilen auf 20 bringen. Das war später auch der Redigier-Job, und das kann Spaß machen: Dienst an der Sprache.
Vor 30 Jahren kannten alle Journalisten die Bücher Deutsch für Kenner und Deutsch für Profis des Hamburger Journalisten Wolf Schneider, der dann in seiner Heimatstadt die Gruner-und-Jahr-Journalistenschule gründete (ich war in der Münchner, in der südlichen Variante). Er nahm sich missglückte Einleitungen und Bandwurmsätze aus FAZ und NZZ vor und zeigte, wie das klarer ginge. Die Stilpäpste waren immer für den schlichten Ausdruck und den klaren Gedanken.
In den 30 Jahren davor kannte man in unserem Land das Buch Deutsche Stilkunst von Ludwig Reiners (1896-1957); alle beriefen sich darauf. Es war 1943 erschienen und verdankt sich so sehr dem gleichnamigen Buch von Eduard Engel, dass manche es als Plagiat bezeichneten. Reiners‘ Buch war so verfasst, dass es den Nazis gefiel, während der Jude Engel 1938 verarmt und unerkannt starb.
Engels Buch erlebte viele Auflagen. Was würde er über die Stilkunst hundert Jahre nach seinem Buch sagen? Freilich, es gibt den Qualitätsjournalismus, in dem ein paar Dutzend »Edelfedern« (so nennt man die Star-Schreiber) mit einer gehörigen Portion Eitelkeit zeigen, was mit der Sprache geht. Die Jungen orientieren sich daran und pflegen den Reportage-Stil, der derzeit gefragt ist. Journalismus ist gekonnte Nachahmung.
Die Masse der Schreibenden jedoch weiß nichts von Kommas und knallt die Informationen nur so raus, ach, und es wird so viel geschrieben, dass man über die Qualität besser schweigt. Romane lesen sich wie eine Ansammlung von Bratenrezepten oder Yellow-Press-Berichten. Pragmatik ist angesagt. Das Was hat das Wie überrollt. Die Macher-Gesellschaft hat keine Zeit für sowas Seltsames wie schöne Sprache, von dem man gar nicht mehr weiß, was das ist. Dabei ist, meinte Adorno, nur das schön Zwecklose unersetzbar.