Hebelsche Katastrophen
Johann Peter Hebel (1760-1826) war der größte Dichter Badens und gehörte zu denen, die vor 200 Jahren journalistische Arbeiten mit literarischer Qualität schrieben und dabei die Tragik hervorhoben. Er schildert, was geschah und kommentiert mit Augenmaß. Auf manipogo sollen Hebels Beiträge über Lawinen in der Österreich und der Schweiz zu lesen sein.
Damals konnte man ja immer noch die Ansicht vernehmen, Katastrophen seien irgendwie Gottes Strafe. Darum hatte man Mühe damit. Hebel, Kleist und Heine allerdings kümmerten sich nicht darum, sie waren schon echte Journalisten – die drei besten in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Johann Peter Hebel hatte sein Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreunds, in dem er publizierte, Heine schrieb für die Augsburger Zeitung aus Paris und Kleist für das Berliner Abendblatt und Phöbus.
Zwei Gedichte von Johann Peter Hebel hatte ich einmal verwendet: Das Hexlein und Z’Friburg in der Stadt. Hebels journalistische Beiträge entnehme ich dem Buch Die Katastrophen des J. P. Hebel, erschienen vor 20 Jahren (1998) im Belchen-Verlag, dem es darum zu tun war, Hebels Image als gemütvollen badischer Dichter zu verwischen; er konnte satirisch und scharf schreiben und vor allem: sehr gut.
Große Schneeballen.
Wenn in sehr hohen und gähen Schneegebirgen durch den Wind, oder durch einen Vogel, oder auch nur durch den Schall eine kleine Handvoll Schnee los wird, und anfängt, den Berg herab zu rollen, so wird der Balle natürlicher Weise immer größer, aber bis er in ein Thal herab kommt, wird er endlich so groß, dass er Wagen, Pferd und Mann auf der Straße erdrücken und bedecken, ja ganze Häuser zerschmettern kann, und viele hundert Zentner Schnee schießen von oben herab ihr nach. Ein solcher Schneeschuß heißt eine Lawine, und es wäre an einer einzigen genug.
Aber Dienstags am 11. Februar des Jahres 1807, Abends um 7 Uhr, stürzten bei dem Orte Stuben am Arlberg vier solcher Lawinen von vier verschiedenen Orten herab, auf einmal mit einem fürchterlichen Tosen und Krachen zusammen. Das mag auch ein großer Schrecken und Jammer für die armen Einwohner gewesen sein. Vier Häuser und acht Ställe wurden fortgerissen und überschüttet. Von achtzehn Personen, welche in diesen Häusern aßen und tranken, spinnten und haspelten, sind nur drei lebendig gerettet worden. Dreizehn sind todt hervorgegraben worden, oder doch bald an ihren Verwundungen gestorben, und zwei Männer hat man gar nicht mehr gefunden. Dabei gingen 10 Pferde, 36 Stück Rindvieh, 20 Geisen, 11 Schafe und eine Sau verloren, und der Schaden beläuft sich nach einer gerichtlichen Schätzung auf 12,977 Gulden. In wenigen Minuten war alles nichtig.
Da ist’s doch besser, in der Ebene zu leben, und in den anmuthigen Thälern zwischen den kleinen Bergen, wenn auch schon nicht Alles ist, wie man’s wünscht, und kommt manchmal etwas Ungerades, bald von oben herab, bald von den Seiten, rechts oder links.
Ich erinnere mich an eine Tafel in der Hauptstraße von Saas-Grund im Wallis, auf der es hieß, bei einer Lawine im Jahr 1848 (glaube ich) seien hier 30 Menschen ums Leben gekommen. Das führt uns zu dem Artikel
Schreckliche Unglücksfälle in der Schweiz.
Der zwölfte Dezember des vergangenen Winters (1809) brachte für die hohen Bergthäler der Schweiz eine fürchterliche Nacht, und lehrt uns, wie ein Mensch wohl täglich Ursache hat, an das Sprüchlein zu denken: »Mitten im Leben sind wir mit dem Tode umfangen.« Auf allen hohen Bergen lag ein tiefer, frisch gefallener Schnee. Der 12. December brachte Thauwind und Sturm. Da dachte jedermann an großes Unglück und betete. Wer sich und seine Wohnung für sicher hielt, schwebte in Betrübniß und Angst für die Armen, die es treffen wird, und wer sich nicht für sicher hielt, sagte zu seinen Kindern: »Morgen geht uns die Sonne nimmer auf,« und bereitete sich zu einem seligen Ende. Da rissen sich auf einmal und an allen Orten von den Firsten der höchsten Berge die Lawinen oder Schneefälle los, stürzten mit entsetzlichem Tosen und Krachen über die langen Halden herab, wurden immer größer und größer, schossen immer schneller, toseten und krachten immer fürchterlicher, und jagten die Luft vor sich her so durcheinander, dass im Sturm, noch ehe die Lawine ankam, ganze Wälder zusammenkrachten und Ställe, Scheuren und Waldungen wie Spreu davon flogen, und wo die Lawinen sich in den Thälern niederstürzten, da wurden Stunden lange Strecken mit allen Wohngebäuden, die darauf standen, und mit allem Lebendigen, was darin athmete, erdrückt und zerschmettert, wer nicht wie durch ein göttliches Wunder gerettet wurde.
Dann erzählt der Meister von drei Episoden im Kanton Uri mit tödlichem Ausgang, bevor er schließt:
Kurz, in allen Berg-Kantonen der Schweiz, in Bern, Glarus, Uri, Schwitz, Graubünden, sind in Einer Nacht, und fast in der nämlichen Stunde, durch die Lawinen ganze Familien erdrückt, ganze Viehheerden mit ihren Stallungen zerschmettert, Matten und Gartenland bis auf den nackten Felsen hinab aufgeschürft und weggeführt und ganze Wälder zerstört worden, also dass sie in’s Thal gestürzt sind, oder die Bäume liegen über einander zerschmettert und zerknickt, wie die Halmen auf einem Acker nach dem Hagelschlag. Sind ja in dem einzigen kleinen Kanton Uri fast mit einem Schlag 11 Personen unter dem Schnee begraben worden, und sind nimmer auferstanden, gegen 30 Häuser und mehr als 50 Heuställe zerstört, und 359 Häuptlein Vieh umgekommen, und man weiß gar nicht, auf wie viel mal hunderttausend Gulden soll man den Schaden berechnen, ohne die verlorenen Menschen. Denn das Leben eines Vaters oder einer Mutter oder frommen Gemahls oder Kindes ist nicht mit Gold zu schätzen.
Hebel, der gläubig war, lässt hier Gott aus dem Spiel und erinnert daran, dass ein Menschenleben unschätzbar ist; damals mag die Ökonomisierung des Lebens begonnen haben, die nunmehr zur Regel und einer Praxis geworden ist.