Spiel mit dem Tod

Ich  spiele gerne Schach. Mit einem alten Herrn im Altenheim liefere ich mir Duelle, leider sind wir Chaoten und Schnelldenker, die viele blöde Fehler machen. Ich bin auch zu faul, mich fortzubilden. Lieber mache ich einen spontanen Zug (und scheitere damit). In einem DDR-Buch fand ich eine erregende wahre Geschichte ums Schachspiel, die ich wiedergebe. Sie spielt im Konzentrationslager Dachau.

09918rErzählt hat sie Alexej R. Konstantinow, der 1981, als das Buch Schach – ernst und heiter im Verlag Tribüne in Berlin erschien, Professor für Mathematik und Physik an der Universität Kiew war. Wir raffen die Geschichte etwas, vergessen aber nicht, die Notation anzugeben. Ich möchte die Partie auch nachspielen. (Das Buch wurde von Rolf Voland zusammengestellt, und das ›Spiel mit dem Tod‹ steht auf den Seiten 179 bis 182. Der Verlag Tribüne wurde 1990 aufgelöst. – Die Illustration: Schachspieler in einem Park in Washington D. C., fotografiert von Carol M. Highsmith; courtesy of Library of Congress dortselbst.)

Konstantinow befehligte eine sowjetische Kompanie, die Ende September 1941 die Newa überschritt, dann jedoch angegriffen und eingekesselt wurde. Am 2. Oktober überschütteten die Deutschen sie mit Granaten, und der Kompanieführer kam in Gefangenschaft. (Wie immer in Kursivschrift wörtliche Auszüge aus dem Bericht.)

dachauMein strapazenreicher Weg durch die faschistischen Lager begann: Prügel, Karzer, Hunger und Kälte, Unterleibstyphus und offene Tuberkulose. Zum Ende des Jahres 1943 wurde ich mehr tot als lebendig in das Konzentrationslager Dachau eingeliefert.

Der Kranke kam in den Quarantäneblock und konnte von dort aus andere Blöcke des Lagers besuchen und am Abend gegen andere Häftlinge Schach spielen. Er war meist siegreich. Die Kunde von seinen Erfolgen verbreitete sich. (Illustration: Zeichnung eines Häftlings, aus dem Buch La mia ombra a Dachau, 1997 Mursia, Mailand; Original: Mein Schatten in Dachau, München)

An einem Herbsttag des Jahres 1944 kam zu uns in den Block die Lagerwache. »Nummer 60786 raustreten!« schrie einer. Das war meine Nummer. Solche Aufrufe verhießen im allgemeinen nichts Gutes. Oft kehrten die Sträflinge nicht wieder ins Lager zurück. Ich trat vor. Höhnisch verkündete mir der Wachmann, dass jemand prüfen wollte, ob ›ein Bolschewistenschädel ordentlich schachspielen kann‹. Zusammen mit mir wurde auch Sergej Dmitriewitsch Medwedjew aufgerufen, ebenfalls ein begeisterter Schachfreund.

Man stieß uns in die erste Stube eines bevorrechtigten Blocks, der bis aufs letzte mit Gefangenen vollgepfropft war. In der Mitte des Zimmers stand ein Tisch mit einem aufgestellten Schachspiel. Am Tisch saß ein Helfer des Lagerkommandanten, ein SS-Offizier, der durch seine Grausamkeit berüchtigt war. Zu seiner Linken lag eine Pistole. Barsch wurde ich aufgefordert, Platz zu nehmen. Die weißen Figuren übernahm der SS-Mann. Mich würdigte er keines Blickes. … Hinter meinem Rücken stand Medwedjew. Das Spiel begann …

Konstantinow antwortet auf e2-e4 mit e7-e6. Er wählte also die Französische Verteidigung. Im Buch analysiert der Autor nach allen Regeln der Kunst die jeweilige Stellung, was wir uns ersparen (die Notation steht am Schluss). Es folgt der 21. Zug von Weiß: Dame von g5 auf h6. Schwarz überlegt und zweifelt.

Doch plötzlich sah ich, dass ich nach 21. Dh6 in drei Zügen matt setzen konnte. Ich bemerkte es und erschrak. Wenn der SS-Mann dann in Wut gerät und mich gleich an Ort und Stelle erschießt? Was sollte ich tun? Dann beschloss ich: »Mag kommen, was will!« Den Tod hatte ich schon früher einige Male vor Augen gehabt, er konnte mich nicht mehr erschrecken. Ich hob den Kopf, schaute erstmals meinem Gegner in die Augen und zog …

Aus der gespielten Leichtigkeit, mit der der SS-Mann erwiderte, schlussfolgerte ich, dass er das Matt ebenfalls gesehen hatte, aber sicherlich prüfen wollte, ob ich wagen würde, es zu realisieren. Das Matt hatten auch die beobachtenden Sträflinge bemerkt. Der neben mir stehende Wachmann stieß mich kräftig in die Seite und flüsterte: »Verliere!« Medwedjew war unterdessen ganz nah an meinen Rücken herangetreten, und ich fühlte seine Unterstützung. So wagte ich es: 22. …Tf8-b8† 23. Kb1-c1 Da6:a3 matt.

Eine tödliche Stille trat ein. Die Gefangenen waren erstarrt. Der SS-Mann saß still und schaute finster auf das Brett. Dann erhob er sich schwerfällig nahm seinen Revolver erst in die linke Hand, dann in die rechte, schaute mich an und brummte schließlich: »Du hast Glück, Mensch!« Damit machte er den Riemen an seiner Revolvertasche fest und ging.

Mit einem Male wurde die Ruhe unterbrochen: »Hervorragend! Gut!« hörte ich in polnischer, russischer und deutscher Sprache. Der Wachmann packte mich am Kragen und schleuderte mich auf den Asphalt mit solcher Kraft, dass ich mir die Knie aufschlug und die Hände aufritzte. In unserem Block wurden wir schon erwartet. Als ich am Abend auf die Lagerstraße hinaustrat, beglückwünschten mich entgegenkommende, mir völlig fremde Gefangene, klopften mir auf die Schulter und schüttelten mir die Hände.

 

Die Züge (Doppelpunkt heißt: Figur schlägt):
1. e2-e4 e7-e6 2. d2-d4 d7-d5 3. Sh1-c3 Lf8-h4 4. Lf1-d3 c7-c5 5. a2-a3 Lb4:c3† 6. b2:c3 c5-c4 7. Ld3-e2 d5:e4 8. Le2:c4 Dd8-c7 9. Dd1-e2 Sb8-d7 10. Lc1-b2 Sg8-f6 11. f2-f3 b7-b5 12. Lc4:b5 Ta8-b8 13. 0-0-0 0-0 14. f3:e4 Dct-a5 15. c3-c4 Lc8-a6 16. Lh5:a6 Da5:a6 17. e4-e5 Sd7-b6 18. e5:f6 Sb6:c4 19. De2-g4 g7-g6 20. Dg4-g5 Th8:h2 21. Dg5-h6 Tb2-b1† 22. Kc1:b1 Tf8-b8† 23. Kb1-c1 Da6:a3 matt.

Die Schlüsselstelle ist wohl Zug 17. Das e4-e5 nennt Konstantinow stark und energisch, und nun hätte er mit Sf6-e8 passiv weiterspielen – oder  selber angreifen können. Er wählte die zweite Variante und ging aufs Ganze.  

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