Flugverkehr (83): Der kleine Vogel in der Winternacht

Beiträge zum Flugverkehr fliegen einen völlig überraschend an. Wer würde erwarten, in dem Roman Rudin von Iwan S. Turgenjew, der im 19. Jahrhundert in der russischen Provinz spielt, etwas dazu zu finden? Die begüterte Daria Michailowna gibt gern Abendgesellschaften und wartet auf den Baron Muffel. Der jedoch musste abreisen und schickt an seiner Stelle einen Freund namens Rudin. Nun gut, soll er eintreten.

Vorgestellt wird er als Dmitrij Nikolajewitsch Rudin, und der Autor Turgenjew schildert ihn so:

Herein kam ein etwa fünfunddreißigjähriger Mann von hohem Wuchs, etwas gebückt, kraushaarig, brünett, mit einem unregelmäßigen, aber ausdrucksvollen und klugen Gesicht, mit einem feuchten Glanz in den flinken dunkelblauenAugen, mit einer gerade, breiten Nase und mit schön gezeichneten Lippen. Sein Anzug war nicht neu und so eng, als wäre er aus ihm herausgewachsen. 

Der VogelRudin besitzt ein Gut im Gouvernement Tula. Nach verhaltenem Beginn duelliert er sich verbal mit dem eitlen, dummen Pigassow und weist ihn zurecht. Pigassow sagt, er habe keine Überzeugungen; Rudin fragt ihn, ob das seine Überzeugung sei, und als Pigassow bejaht, triumphiert Rudin: »Weshalb sagen Sie dann, dass es sie nicht gibt? Da haben Sie schon eine auf den ersten Anhieb.« Treffer. Der Überraschungsgast läuft zu großer Form auf. Er schlägt alle Anwesenden in seinen Bann, er bezaubert sie (und plötzlich weiß man: Diesen Roman wird man zu Ende lesen, wegen dieses außerordentlichen Menschen):

… Begeisterung atmeten seine ungeduldigen Improvisationen. Er suchte nicht nach Worten: sie kamen ihm selbst gehorsam und freiwillig auf die Lippen, und jedes Wort schien ihm geradewegs aus der Seele zu kommen und flammte in der ganzen Glut der Überzeugung. Rudin beherrschte schier das höchste Geheimnis — die Musik der Beredtheit. Er vermochte, jede Saite des Herzens anzuschlagen, konnte sie traurig klingen lassen und alle übrigen rühren.

lindauvogel

Und dann sprach er darüber, was dem vorübergehenden Leben des Menschen in der Zeit ewige Bedeutung verleihe.

Ich erinnere mich einer skandinavischen Legende. Der König sitzt mit seinen Kriegern in einem dunklen und langen Schuppen, ringsum Feuer. Die Geschichte spielt in der Nacht, im Winter. Plötzlich fliegt ein Vögelchen zur geöffneten Tür herein und fliegt bei der anderen wieder hinaus. Der König bemerkt, dass dieser Vogel wie der Mensch auf der Welt sei: aus dem Dunkel ins Dunkel, nur ein Weilchen in Wärme und Licht … »König«, bemerkt der älteste der Krieger, »das Vögelchen kommt auch im Dunkel nicht um und findet sein Nest.« … So flüchtig und nichtig ist auch unser Leben; doch alles Große wird durch die Menschen vollendet. Das Bewusstsein, ein Werkzeug der höchsten Kräfte zu sein, muss dem Menschen alle anderen Freuden ersetzen: erst im Tod findet er sein Leben, sein Nest …

Dann hielt Rudin inne und »senkte den Blick mit einem Lächeln unwillkürlicher Trauer …« Es ist ein starkes Bild: der Vogel, der aus dem Dunkel kommt und ins Dunkel fliegt. Das Leben, ein Nichts zwischen zwei Dunkelheiten? Es geht ums Heimkommen und um die Neuorientierung, bis vielleicht ein neuer Flug erfolgt. Was wissen wir schon?

(Ergänzung: Auch Überraschungen fliegen einen an, und es ist ihre Natur. Im weiteren Verlauf der Lektüre stellte sich leider heraus, dass Rudin ein eitler Geck ist, der gut zu reden und Menschen um den Finger zu wickeln versteht. Das arme Töchterlein von Daria Michailowna verfällt ihm. Deren Untergang wollte ich nicht miterleben, ich konnte plötzlich nicht weiterlesen. Dies alles soll jedoch den Eindruck dieser Vogelgeschichte nicht mindern. Sie ist gut, trotz Rudin.)

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