Der körperlose Körper

»Ballett ist vielleicht das körperlichste aller Bühnenfächer«, sagte einmal der berühmte südafrikanische Choreograf John Cranko (1927-1973), »doch Kunst wird Ballett nur, wenn es unkörperlich wirkt.« Absichtslos und mühelos soll sich der Körper bewegen, wenn der Taoist die Posituren von Kranich und Bär einnimmt, doch dem Adepten wird es erst nach Jahren gelingen. Doch ist der Anfang gemacht, fließt die Energie, und Atem, Bewegungen und Gewichtsverlagerung erfolgen automatisch; alles wird schön und ergibt einen Fluss.

DSC_4436ffIch habe mich für das Buch The Way of Qigong begeistert, das Kenneth S. Cohen 1997 herausgebracht hat. Ingo Swann empfahl es dringlich. Darin sind viele Übungen detailliert beschrieben (nur anfangen müsste man mit ihnen mal …). Es beginnt mit dem Qi Stance, auszuüben gleich am Morgen fünf Minuten lang. Man steht einfach bequem, lässt die Hände an den Seiten locker herabhängen, hält das Haupt gereckt und blickt lässig in die Ferne. Spürt seine Muskeln und Sehnen, steht reglos.

DSCN4512»Die inneren Gedanken wandern nicht nach draußen. Ereignisse draußen dringen nicht ins Innere ein«, riet Wang Xiang-shai (1885-1963), der ein großer Qigong-Heiler, Meditierender und Kämpfer war. Er sagte auch: »In der Bewegung sei wie der Drache und der Tiger. In der Stille, habe den Geist des Buddha.« Das Wichtigste dabei ist der Atem. Beim Einatmen füllt sich der Unterbauch, dem eine besondere Rolle zukommt. Hara oder tanden nennt der Japaner den Punkt etwa acht Zentimeter unterhalb des Nabels, auch Zinnober-Feld genannt. Es ist das Zentrum des Menschen und der unterste der drei dan tian; einen gibt es noch in der Brust und einen zwischen den Augenbrauen. Durch das Einatmen dringt auch das ominöse chi in den Körper und kann in ihm geistig umhergeschickt werden, und man kann sich die Energie als weißlichen Rauch vorstellen. Die wichtigsten Maximen sind: Entspanne dich! Atme ruhig! Stehe aufrecht und zentriert!

Wie Ingo Swann hat auch Cohen etwas zur Sexualität zu sagen, die im Taoismus eine große Rolle spielt – wie die Ernährung auch. Die Taoisten wollen perfekt gesund sein und lang leben. Ohne Sexualität würden die Energien shen und chi nicht fließen, sagte Su Nu dem Gelben Kaiser, und wie er dann den Zustand perfekter Gesundheit erreichen wolle? Kenneth S. Cohen lehrt uns auch zwei Übungen, um mehr Energie in den Lendenbereich zu kriegen, sprich: mehr Lust empfinden zu können.

Bei der Übung Hirsch (Male Deer) soll sich der Mann nach dem Aufwachen nackt hinsetzen, am besten begleitet von der morgendlichen Erektion (der »Jadestab«: aufrecht), und dann solle er mit der linken Hand die Testikel umfassen und den Daumen auf den Ansatz des Penis legen. Dann lässt er seine andere Hand 81 Mal auf dem Unterbauch kreisen, von Nabel zu Penis. Danach reibt er die Hände aneinander, um neue Energie zu sammeln, und macht es umgekehrt: Die rechte Hand umfasst die Testikel, die linke kreist, diesmal andersherum. Schließlich macht er zwei Fäuste, die die Daumen einschließen: um die Energie zu speichern. Dann eine Minute die Beckenmuskulatur anspannen und dabei ruhig atmen. Fertig.

Die Frau soll bei der Übung Reh (Female Deer) sich auf ein Kissen setzen; die Ferse berührt die Vagina (das »Jadetor«), der andere Fuss bleibt nahe des Schienbeins des anderen. Sie reibt die Handflächen aneinander, legt sie auf die Brüste und beschreibt 36 Kreise, innen hoch in Richtung Gesicht und außen wieder herunter. Fäuste ballen, um die Energie zu speichern. dann ein bis zwei Minuten die Vaginalmuskeln anspannen. Kann man in die andere Richtung wiederholen.

34ffDiese und die vielen anderen Übungen — die acht Brokate, die Tierstellungen zu Kranich und Bär, das Lineal — helfen, gesünder und stärker zu werden und einen besseren Bezug zum Körper zu bekommen, dessen Existenz man sich manchmal bewusst machen sollte. Erst wenn er wieder im Bewusstsein ist, kann er körperlos werden und »verschwinden«, weil die Bewegungen im Einklang mit dem Universum erfolgen, und so übt man keinen Widerstand aus und stößt auf keinen, der Körper wird zum Nicht-Körper und die gewünschte Leere (kong) im Geist tritt ein.

Zu kong fällt mir ein, dass ich in meiner Jugendzeit begeistert die Serie »Kung Fu« verfolgte, in der David Carradine den Shaolin-Mönch Kwai Chang Caine spielt, der im Wilden Westen umherzieht. In den USA lief die Serie von 1972 bis 1975. Und dann gab es noch »Yancy Derringer« (gedreht 1958/59, ausgestrahlt in Deutschland 1967 bis 1969), der von einem meist schweigenden Indianer begleitet wurde, der mein Held war. All das deutet schon früh auf Interessen hin, die irgendwie da waren, ohne durch jemanden angeregt oder gefördert worden zu sein. Dann aber führt man ein Leben im Milden (zivilisierten) Westen und vergisst seinen Hang zum Osten, aber der Osten, der nahe und ferne, ist hatnäckig und lässt sich nicht abschütteln.   

 

Oberste und unterste Illustration: Karl Heinz Renner, Freiburg

 

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