Flugverkehr (88): Unser Blick von oben

Viele Gedanken melden sich. Die müssen alle in einen Beitrag rein, mit dem das Jahr ausklingt. Ich weiß, manipogo ist manchmal too much: zu viel, zu schwierig, zu abgehoben. Doch ich schreibe primär, um selbst ein Thema zu begreifen, und was durchkommt — davon sucht ihr euch einfach etwas aus, und vielleicht bleibt ja was haften und regt zum Weiterdenken an. Damit ins Jahr 2020! Das Interesse ist mäßig, die Balken der Tage sehen aus wie eine Flatline bei einem, der nicht mehr atmet. Damit sind wir schon beim Thema: unser grafischer Blick auf die Welt.

Im Dezember einmal 4000 Klicks, einmal 2250, einmal 1500, macht 7750; ansonsten rund 800 am Tag, so kam ich wieder auf rund 31.000. Flatline auf recht gutem Niveau. Die Balken zeigen das. Überall Diagramme und Balken und Schaubilder. Da fand ich einen Sonderdruck von 1993: 10 Seiten von dem Germanisten Uwe Pörksen (geboren 1935) über das Thema Visuelles Infotainment. Ich erinnere mich an einen Kollegen, der in Hamburg um das Jahr 1990 Infografiken aus seiner Agentur anbot, damals das große Ding; und Pörksen schreibt, mit dem Golfkrieg 1990 habe das angefangen. Schaubilder erklärten einem die Welt.

In der Wissenschaft legen Referenten Folie um Folie auf einen Träger und projizieren sie an die Wand. Fing damals an, ist heute noch so, Powerpoint heißt die Technik. Pörksen (1993):

Nicht geringer ist die Bedeutung der Tabelle, des Diagramms, des graphischen Schaubildes in den praktischen Bereichen. Verwaltung und Verkehr, Wirtschaft und Gesundheit stützen sich auf eine neuartige, inzwischen meist bunte Bilderschrift, bestehend aus Kurven, Balken, Säulen und Torten, deren Hauptfunktion darin besteht, Zahlenverhältnisse einprägsam, übersichlich und rasch lesbar zu machen.

Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass wir nicht mehr darüber nachdenken. Mittlerweile sind 30 Jahre vergegangen. Die Tagesschau serviert uns, wenn etwas passiert ist, gleich eine Grafik: Blick von oben auf die Stadt. Wo fanden die Attentate statt? Google Maps nutzt jeder, und der Blick von oben auf die Welt ist normal geworden. Die Welt, so scheint es uns in den Medien, ist eine Ansammlung von Probemen, die gemeistert werden könnten. Die Diagramme spiegeln uns Objektivität vor: erstarrt sind sie wie das Röntgenbild des Arztes. Ganze Zahlen, harte Kontraste, die Welt in ihrem gnadenlosen Sosein eingefroren.

Dabei sind Körper und Welt lebende Systeme, immer im Fluss. Es gibt Schattenzonen und Unklarheiten, es gibt die Kontingenz: die Ergebnisoffenheit in die Zukunft hinein. Die Chaos- und die Quantentheorie konnten den Menschen in seinem Hang zu Eindeutigkeit und schlichten Lösungen nicht beirren. Hyperions Schicksalslied von Friedrich Hölderlin endet so:

Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab.

 

 

 

 

 

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