Octavio Paz über den Tod

Zu Beginn des Totenmonats November einige Einlassungen des mexikanischen Nobelpreisträgers Octavio Paz über den Tod. Sie stammen aus seinem Buch Laberinto de la Soledad, das auch 70 Jahre nach Erscheinen nicht an Aktualität eingebüßt hat. Der betreffende Abschnitt im Buch heißt Todo santos, día de muertos, aber gerade die mexikanische Feier der Verstorbenen ersparen wir uns, weil sie bei manipogo in dem Beitrag Esa noche: la muerte abgefeiert wurde, vor sechs Jahren nunmehr. 

Es trifft heute noch zu, was Paz über den Tod in der modernen Welt schrieb (und von mir hier übersetzt wurde):

Der moderne Tod besitzt keine Bedeutung, die ihn transzendieren oder ihn auf andere Werte verweisen ließe. In fast allen Fällen apothist er einfach das unvermeidbare Ende eines natürlichen Prozesses. In einer Welt der Fakten ist der Tod nur ein weiteres Faktum. … In der modernen Welt funktioniert alles und so, als ob der Tod nicht existierte. Niemand rechnet mit ihm. Alles unterdrückt ihn: die Predigten der Politiker, die Versprechungen der Werbebotschaften, die öffentliche Moral, die Gebräuche, die billige Fröhlichkeit und die provokativ zur Schau gestellte Gesundheit derer, die uns Krankenhäuser, Apotheken und Sportstätten zur Verfügung stellen. Jedoch lebt der Tod — nicht nur als Übergang, sondern als großer leerer Mund, den nichts sättigen kann — in allem, was wir unternehmen.

Dann widmet er sich den Mexikanern, die der Tod fasziniert. Der mexikanische Mann gibt sich der Anziehungskraft der Gewalt hin. Denken wir an den Drogenkrieg Mexikos zwischen den Kartellen und der Polizei, der von 2006 bis 2018 mehr als 200.000 Menschenleben kostete oder an die (geschätzt) 40.000 Frauen, die in dem genannten Zeitraum von ihren männlichen Partnern ermordet wurden.

Für uns wird es noch interessanter, wenn er sich über Europa und Nordamerika Gedanken macht. Gesetze, Sitten, die öffentliche und die private Moral wollten das menschliche Leben bewahren. Dies verhindere nicht, dass immer häufiger schlaue und durchtriebene Produzenten des perfekten Verbrechens auftauchen, deren Vorgehen und spätere Geständnisse mit Lust durch die Medien verbreitet würden, und dazu komme die Ineffizienz des Strafvollzugs, und all das

zeigt, dass der Respekt für das menschliche Leben, auf den die okzidentalen Gesellschaften so stolz sind, ein unvollständiger und heuchlerischer Grundsatz ist. 
Der Kultus des Lebens ist, wenn er wirklich fundamental und total ist, auch ein Kultus des Todes. Beide sind untrennbar. Eine Zivlisation, die den Tod leugnet, beginnt, das Leben zu leugnen. 

IMAG0027Wohl noch beeinflusst durch die Konzentrationslager und den Krieg, meint Octavio Paz, die Beziehung zwischen Täter und Opfer sei am Verschwinden. Nur diese vermenschliche das Verbrechen und mache es nachvollziehbar, schenke ihm manchmal sogar Poesie und Größe: »Dank des Verbrechens erhalten wir Zugang zu einer abgeschwächten Transzendenz.« (Deshalb gibt es in unserer Welt den ›Tatort‹ und ›Polizeiruf 110‹. Sie thematisieren vor allem den Tod.) Doch nach dem Marquis de Sade gebe es laut Paz keine Opfer mehr, nur mehr Instrumente des Vergnügens und der Rache, und das Opfer werde zum Objekt gemacht. (Denken wir an die Bluttaten von Halle im Januar 2020 und die schreckliche Autoattacke von Volkmarsen im Februar.) Das lasse die totale Einsamkeit des Opfers so ausweglos erscheinen. (Die Fragen hören nie auf: Warum das? Warum ich?) Octavio Paz folgert:

Und so ist es nutzlos, den Tod aus unseren Darstellungen, unseren Worten, unseren Gedanken auszuschließen, weil er allmählich uns alle einholen wird und als erste jene, die ihn ignorieren oder so tun, als ignorierten sie ihn.

 

Ein weiterer Beitrag mit Octavio Paz: Mexikanische Masken.

 

 

 

 

 

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