Wanderung

Vor 200 Jahren wanderte, wer nicht viel Geld hatte, und dass das gesund sei, kam keinem Wanderer in den Sinn. »Beine hat uns zwei gegeben / Gott der Herr, um fortzustreben« schrieb Heinrich Heine, von dem auch die Strophe »Denk ich an Deutschland in der Nacht / dann bin ich um den Schlaf gebracht« bekannt wurde. Nicht nur Heine war ein kritischer patriotischer Geist, auch sein Zeitgenosse Ludwig Uhland war es.

Uhland verfasste 15 Gedichte, die er als Vaterländische Gedichte veröffentlichte. Das dürfte um das Jahr 1818 gewesen sein. Man musste bis zur Einigung noch einige Jahre warten: Im Mai 1848 trat die Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche zusammen und gab dem entstehenden Staat die Reichsgesetze. 30 Jahre zuvor lag noch vieles im Argen, und um dies zu zeigen, schrieb Ludwig Uhland die

Wanderung

Ich nahm den Stab zu wandern,
Durch Deutschland ging die Fahrt,
Man pries mir ja vor andern
Der Deutschen Sinn und Art.
Dem Lande blieb ich ferne,
Wo die Orangen glühn;
Erst kennt ich jenes gerne,
Wo die Kartoffeln blühn.

Da wandelt Uhland einen Satz aus Goethes Wilhelm Meister ab: »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?« Damit meinte er Italien.

Ich kam zum Fürstenhofe,
Wo man die Künste kränzt,
Wo Prunksaal und Alkove
Von Götterbildern glänzt.
Ein Baum, der nicht im groben
Volksboden sich genährt,
Nein einer, der nach oben
Sogar die Wurzeln kehrt!

Deutschland bestand aus vielen Staaten — Königreiche, Großherzogtümer, Kurfürstentümer: 36 verschiedene —, und wiederum Goethe (1832 gestorben) schrieb, er könne den Tag nicht erwarten, an dem er frei mit seinem Koffer durch ganz Deutschland reisen könne, ohne überall an Grenzen zu stoßen und seinen Ausweis zeigen zu müssen. Die Fürsten lebten im Luxus und fern vom Volk.

Ich ging zur Hohenschule,
Da schöpft ich reines Licht,
Wo vom Prophetenstuhle
Die wahre Freiheit spricht;
Wo uns der Meister täglich
Den innern Sinn befreit,
Indes ihm selbst erträglich
Der ird’sche Leib gedeiht.

Das gibt es auch heute noch: Der Esoterik-Guru lehrt das richtige Leben, predigt Wasser, trinkt aber Wein und beutet seine Jünger aus.

Ich schritt zum Sängerwalde,
Da sucht ich Lebenshauch;
Da saß ein edler Skalde
Und pflückt‘ am Lorbeerstrauch;
Nicht hatt er Zeit, zu achten
Auf eines Volkes Schmerz,
Er konnte nur betrachten
Sein groß, zerrissen Herz.

Gut bemerkt: Der sensible Dichter kennt nur sich und seine Leiden, der Mitmensch ist ihm fern.

Ich ging zur Tempelhalle,
Da hört ich christlich Recht:
Hier innen Brüder alle,
Da draußen Herr und Knecht!
Der Festesrede Giebel
War: duck dich! schweig dabei?
Als ob die ganze Bibel
Ein Buch der Kön’ge sei.

Das Buch der Könige ist ein Buch der Bibel, und hier nimmt Uhland die christliche Heuchelei aufs Korn. Wir Brüder (Schwestern gibt es nicht) beten in der Kirche und sind solidarisch; draußen aber ist jeder allein und dem Fürsten untertan.

Ich kam zum Bürgerhause,
Gern denk ich dran zurück,
Fern vom Parteigebrause
Blüht Tugend hier und Glück.
Lebt häuslich fort wie heute!
Bald wird vom Belt zum Rhein
Ein Haus voll guter Leute,
Ja! ein Gutleuthaus sein.

Ein Gutleuthaus war im Mittelalter ein Refugium für Leprakranke, eine Art Krankenhaus.

Ich ging zum Hospitale,
Da fand ich alles nett,
Viel Grütz und Kraut zum Mahle
Und reinlich Krankenbett;
Auch sorgt ein schön Erbarmen
Für manch verwahrlost Kind.
Wer denkt des Volks von Armen,
Die altverwahrlost sind?

Uhland lobt das Krankenhaus, vergisst aber nicht zu erwähnen, dass zu seiner Zeit viele Arme verloren waren, wenn sie alt und krank wurden. Kaum jemand kümmerte sich um sie.

Ich saß im Ständesaale,
Da schlief ich ein und träumt,
Ich sei noch im Spitale,
Den ich doch längst geräumt.
Ein Mann, der dort im Fieber,
Im kalten Fieber lag,
Er rief: nur nichts, mein Lieber,
Nur nichts vom Bundestag!

Der Bundestag wurde 1815 ins Leben gerufen, als der Deutsche Bund entstand, der ein Staatenbund war. Er tagte bis 1866 regelmäßig. Im Engeren Rat mit seinen 17 Stimmen waren etwa vertreten Österreich, Preußen, Bayern, Sachsen, Hannover, Württemberg, Hessen, Baden, Holstein und Luxemburg. Viel ging da nicht, der Bund hatte nur wenige Kompetenzen.

Ich mischte mich zum Volke,
Das nach dem Festplatz zog,
Wo durch die Staubeswolke
Manch dürrer Renner flog;
Da lernt es, daß die Eile
Den Reiter überstürzt
Und daß man gut die Weile
Mit Wurst und Bier sich kürzt.

Wurst und Bier, das war immer die Nahrung der Deutschen, und dazu: die Kartoffel.

Ein Adler, flügelstrebend,
War Reichspanier hievor,
Ich sah ihn noch, wie lebend,
Zu Nürnberg an dem Tor.
Jetzt fliegt man nicht zum Zwecke,
Der Wahlspruch ist: Gott geb’s!
Das Wappen ist die Schnecke,
Schildhalter ist der Krebs.

Auch heute noch haben wir den Adler im Wappen, den Bundesadler, den manche Pleitegeier nennen, und 200 Jahre nach Uhland gilt immer noch, dass die Verwaltung sich langsam bewegt und Dynamik durch Gesetze verhindert wird.

Als ich mir das entnommen,
Kehrt ich den Stab nach Haus;
Wann einst das Heil gekommen,
Dann reis ich wieder aus:
Wohl werd ich’s nicht erleben,
Doch an der Sehnsucht Hand
Als Schatten noch durchschweben
Mein freies Vaterland.

Als Schatten .. also nach dem Tod. Doch Ludwig Uhland durfte es noch erleben, ein freies Vaterland (zumindest dem Namen nach), und er mag an Heinrich Heine gedacht haben, der in der Verheißung reimte:

Nicht mehr barfuß sollst du traben,
Deutsche Freiheit, durch die Sümpfe,
Endlich kommst du auf die Strümpfe,
Und auch Stiefel sollst du haben!

Die Stiefel bekam sie, die deutsche Freiheit, und leider stampfte sie 100 Jahre nach diesem Gedicht mit ihren Stiefeln halb Europa platt.

 

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