Götterdämmerung
Was für ein Bild: Auf seinem goldenen Thron sitzt in Gedanken Odin, der Chef der Götter, und die Mittagssonne füllt die Thronhalle mit goldenem Licht. In der Mitte der Halle steht im stahlblauen Mantel, eine schwarze Lammfellkappe auf dem Kopf, eine nordische Seherin, die Wala oder Völva. Sie beginnt zu singen, und ihr Gesang erhebt sich in die Lüfte. Sie singt von der bevorstehenden Götterdämmerung.
Odin war still und ganz Ohr. Er begriff und hatte keine Angst. Es ging nur darum, auf Ragnarok zu warten, den Untergang der Welt. Die Wala hebt an zu singen, und wie Odin werden wir davongetragen und mitten in die Ereignisse hinein, bis wir völlig vergessen, dass wir sie nur gesungen hören. Was wir und Odin hören, wird geschehen, unweigerlich, und der oberste Gott weiß das auch. (Abbildung aus einem Comic.)
Das Zeitalter des Bösen kommt auf die Welt. Die Gewalttätigen fallen über die Friedlichen her, Brüder schlachten sich gegenseitig ab, und die Totengöttin Urd kann sich kaum der Neuzugänge erwehren. Dann wehen die nördlichen Winde übers Land, bevor schwere Schneefälle alle vier Ecken dieser Welt zudecken und im Fimbul-Winter drei Jahre lang erbitterte Kälte herrscht, die jedoch nichts gegen das Morden ausrichten kann.
Der Sturmadler schlägt mit den Flügeln, Stürme brüllen: Denn die Riesen bereiten sich darauf vor, Asgard zu stürmen, den Sitz der Asa-Götter. Im Norden stehen die Frostriesen und die Bergriesen, im Süden die Söhne von Suttung, und sie berennen den Berg Bif-rost. Der Weltenbaum Yggdrasil ächzt und zittert, die ganze Welt bebt, und die Fesseln Gefangener lösen sich: So kommen der Wolf Fenrer und Loki frei, der Verräter unter den Göttern, und die Taue am Schiff des Todes lösen sich …
Die Götter halten furchtlos Rat, jedoch die Elfen haben Angst, und auch die Zwerge in ihren Höhlen schaudern. Gymer freut sich, Harfe spielend, auf das bevorstehende Chaos und gibt das Schwert des Sieges, das er den Asen abgewonnen hat, weiter an Fjalar-Suttung, den Schöpfer der Illusionen, der es dem Chef der Angreifer, Surtur, bringt. Aus dem Osten nähert sich Hrym mit seinen Horden, und die Midgard-Schlange schlägt wütend mit dem Schwanz am Mereresgrund und schickt Wellen hoch wie Berge über die Welt. Viele Menschen sterben und drängen auf die Unterwelt zu, und der Sturmadler freut sich auf das Fleisch der Toten.
Die letzte Schlacht findet auf der Vilgard-Ebene statt. Frey stürmt mit den Helden der Walhalla heran und trifft auf Surtur, dessen Schwert des Sieges ihn tötet. Loki, der Böse, duelliert sich mit Heimdal, und sie bringen sich gegenseitig um. Thor, der Donnergott, liefert sich einen verzweifelten Kampf mit der Midgard-Schlange, sein Hammer Mjolner bringt sie zur Strecke, doch das Gift aus dem Rachen der Schlange tötet den Unbesiegbaren.
Odin hat indessen in Vidars Wald den Wolf Fenrer gegen sich, dessen Maul offen ist wie der Himmel und Flammen spuckt. Odin sitzt auf seinem achtbeinigen Ross Sleipner und schlägt mit seinem Schwert Gungner zu. Er, der alt gewordene Gott, ist zwar in Hochform, doch der Wolf ist stärker und verschlingt ihn. Vidar der Stille steht auf und rächt seinen Herrn, indem er Fenrer die Kiefer aufbiegt und seinen Speer ihm hineinjagt mitten ins Herz. Die Helden von Walhalla sind zerstreut, viele Riesen verloren ihr Leben, das Feld ist rot vom Blut. Der schwarze Drache Nighog kommt mit rauschenden Flügeln und verzehrt die Toten. Surtur bleibt am Leben.
Der Riesenwolf Skoll verschlingt die Sonne, Hati-Managarm den Mond. Die Sterne verlöschen. Surtur schleudert Feuer gegen die verbleibenden Asen, und es überleben nur Odins Söhne Vale und Vidar sowie die Nachkommen Thors, Modi und Magni. Das Feuer zerstört alles, die Welt (Midgard) und Asgard und sogar den Drachen Nighog. Der Rest des Weltenbaum Yggdrasils verbrennt, nichts lebt mehr, und die Erde rutscht in den Ozean. Nur noch Schwärze und Stille. Das war Ragnarok, die Götterdämmerung.
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Das sang die Wala. Odin kam wieder zu sich. Wird es ein Morgen geben? fragte er sich. Unsere Antwort: ja, auf manipogo.
Quelle: Internet Sacred Text Archives, Donald A. Mackenzie, Teutonic Myth and Legend (1921), Kapitel XVII, The Dusk of the Gods.
Abbildungen: Schlachten. Details aus der Amazonenschlacht von Peter Paul Rubens (1577-1640) und der Alexanderschlacht von Albrecht Altdorfer (1480-1558)