Die Schamlose und der Idiot

Bei Dostojewski tickt nichts im Gleichtakt. Am besten hat mir immer der Roman Der Idiot gefallen, der 1868/69 in Fortsetzungen veröffentlicht wurde und 20 Jahre später auf Deutsch. Da gibt es eine qualvolle Schlüsselszene, die auf manipogo gerafft zum Abdruck kommen soll. Fürst Myschkin, 26 Jahre alt, ist aus einer Heilanstalt in der Schweiz wieder nach St. Petersburg gereist und hat Nastasia Filippowna kennengelernt.

Eine Abendgesellschaft. Alle sind sie da, Darja Alexandrewna, Rogoshin, der General,  Ferdystschenko, Lebedew …

2021-05-22-0001Nastasia Filippowna wandte sich neugierig zum Fürsten hin.
»Ist es wahr?« fragte sie.
»Es ist wahr“, flüsterte der Fürst.
»Sie nehmen mich ohne irgend etwas, so wie ich bin!«
»Ich nehme Sie, Nastasia Flippowna …
(…)
»Ich … liebe Sie, Nastasia Filippowna,. Ich würde für Sie sterben, Nastasia Filipowna. Ich werde neimand erlauben, auch nur ein Wort über Sie zu sagen, Nastasia Filippowna. … Wenn wir arm sein werden, werde ich arbeiten, Nastasia Filippowna …«

Sie werden aber nicht arm sein. Der Fürst hat eine bedeutende Erbschaft gemacht, wie man bald erfährt. Nastasia bleibt sitzen und scheint wie betäubt. Sie sei, behaupteten später alle Anwesenden, in diesem Augenblick verrückt geworden. (Illustration: So stellte sich die Künstlerin Sokolowa-Skalja 1953 die Frau vor.)

»Ich bin also wirklich Fürstin!« flüsterte sie wie spöttisch und lachte, als sie zufällig Darja Alexejewna anblickte. »Die Entscheidung ist ganz unerwartet ausgefallen … ich habe sie mir anders gedacht … Ja, warum stehen Sie denn, meine Herrschaften, nehmen Sie doch Platz und gratulieren Sie mir und dem Fürsten!«

Dann, inmitten des Jubels, tritt Rogoshin vor sie hin und sagt, auch er würde sie heiraten, augenblicklich, er habe einen Packen Geld. Fürst Myschkin raunt ihr zu, er sei betrunken, doch er liebe sie sehr. Sie: Er werde sich nicht schämen, wenn man ihm sagte, dass sie Tozijs Geliebte gewesen sei, er werde es ihr nicht vorwerfen? Der Fürst holt zu einer eindringlichen Rede aus:

Sie sind doch ganz unschuldig. Es ist nicht möglich, dass Ihr Leben ganz verloren sein soll. … Sie befinden sich auch jetzt noch in einem krankhaften Zustande und sollten sich eigentlich zu Bett legen. … Sie sind stolz, Nastasia Filippowna, Sie sind aber vielleicht so unglücklich, dass Sie sich wirklich für schuldig halten. Man muss Sie lange pflegen, Nastasja Filippowna. Ich werde Sie pflegen. … Ich … ich werde Sie das ganze Leben achten, Nastasia Filippowna.

Niemand habe bisher so mit ihr gesprochen, erkennt Nastasia. Doch dann holt sie zum Gegenschlag aus und ruft Darja zu:

Und du hast es mir wirklich geglaubt! Ich sollte so ein Kind zugrunde richten? … Komm, Rogoshin! Halte dein Paket bereit! … Fürst! … ich würde mich fürchten, dass ich dich zugrunde gerichtet habe, und dass du es mir dann vorwerfen wirst! … Hast du das nicht erwartet? Auch ich bin vielleicht stolz, trotzdem ich eine Schamlose bin. Du hast mich vorhin vollkommen genannt; wie schaut es aber mit dieser Vollkommenheit aus, wenn ich mich bloß, um damit prahlen zu können, dass ich eine Million und den Fürstentitel verschmäht habe, ins Verderben stürze! Wie kann ich danach deine Frau sein?

Nastasia Filippowna ist Herrin der Szene, läuft herum, agiert, lässt Rogoshins Geld in die Flammen werfen, und er stammelt, sie sei eine Königin, die dann schreit:

Rogoshin, vorwärts! Lebe wohl, Fürst, ich habe zum erstenmal einen wirklichen Menschen gesehen!

Das ganze Gefolge Rogoshin eilt schreiend und lärmend hinaus und nimmt seine Königin mit. Der Fürst folgt ihnen in einer Droschke. So endet der erste Teil des Romans. Nastasia Filippowna verachtet sich selbst — und damit verachtet sie auch alle anderen; doch da ist einer, der rein ist und ehrlich und ehrenhaft, der sie mit seinem Geständnis beschämt, und würde sie seinen Antrag annehmen, müsste sie ihr Leben und sich selbst von Grund auf ändern. Das kommt alles zu plötzlich. Sie reagiert mit Wut und schlägt um sich, will alle für ihr Unglücklichsein zahlen lassen, was ihr auch gelingt. Es war die Begegnung zweier unterschiedlichen Sphären, und dann trägt das Pubikum mit dazu bei, dass Nastasia bei sich bleiben möchte, die Harte, Verlorene verkörpern möchte, die alle bestraft. »Ein verlorenes Weib«, kommentiert der General.

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