In Särgen lebt man schlecht

Vor 60 Jahren starb Josef Wissarionowitsch Stalin. Fast 30 Jahre lang hatte er über die Sowjetunion geherrscht, seit im Januar 1924 Wladimir Iljitsch Lenin gestorben war, der von Zürich die Reise zur Revolution in Petersburg angetreten hatte. »Das Jahrhundert der Wölfe« hat Nadeshda Mandelstam ihre Erinnerungen genannt, die 1971 auf Deutsch erschienen. Sie war die Frau des Dichters Ossip Mandelstam.

Im Zweiten Weltkrieg starben 20 Millionen Sowjetbürger. Allein bei der dreijährigen Belagerung von St. Petersburg (damals Leningrad) durch die Deutschen kamen zwei Milionen Russen um. Doch in den düsteren 1930-er Jahren gab es noch mehr Opfer: vielleicht 30 Millionen Menschen durch Säuberungen, Verschickungen in Lager, Hinrichtungen. Die Paranoia des Diktators Stalin schickte viele in den Tod. Nächtliche Abholungen, Verhöre, Verschickung; das war wie bei den Nationalsozialisten.  Doch gab es keine Gaskammern und Todeslager; es war härteste Arbeit und karges Existieren in der eiskalten Steppe. (Die Nazis nannten das »Vernichtung durch Arbeit«.)

Wer verleumdet wurde oder zu einer Gruppe gehörte, die plötzlich in Ungnade gefallen war, hatte keine Chance. Diese Menschen waren wie lebende Tote, und in Italien gibt es dazu aus Mafia-Kreisen den Ausdruck morti che camminano: Verurteilte, deren Tod beschlossene Sache war. Nadeshda Mandelstam hat in ihrem Buch die unnennbare Angst geschildert, die auch Juden in Deutschland kannten: Wann würden die Wagen vor dem Haus halten, die schweren Schläge an die Tür erfolgen? Dann war es soweit.  

So viele Tote, und die meisten starben irgendwo in Sibirien, in einem Krankenlager wie am 27. Dezember 1938 in Wladiwostok der große Dichter Ossip Emiljewitsch Mandelstam. Er steht nur stellvertretend für Tausende, an die niemand mehr denkt, die nicht einmal ein Grab haben. An literarischen Zeugnissen haben wir  Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (1860) und Solschenizyns Archipel Gulag (1974).  (Rechts: Zeichnung auf der Berliner Mauer; Breschnew und Ulbricht im Bruderkuss. Darunter steht: Mein Gott, hilf mir, diese unendliche Liebe zu überleben.)

Die ganze Sehnsucht nach der Freiheit und die Bedrängnis steht in Mandelstams Gedicht Ariosto II: 

Europa ist nun kalt. Italien – Dunkelheit.
Die Macht ist widerlich wie Baderhände.
Ach könnte man, so schnell’s noch geht, noch alles wenden,
Aufs Adria-Meer ein Fester auftun, groß und breit.

Stalin nahm ihm den Satz mit der widerlichen Macht übel. Mandelstam kam auf die schwarze Liste. Es kam noch zu einer halbherzigen Versöhnung, aber irgendwann hatte er dann vielleicht etwas Falsches gesagt oder geschrieben oder jemand hatte Stalin oder Berija eingeflüstert, Mandelstam müsse weg … Er schreibt, und das geht einem wirklich nahe: 

Hilf mir, Herr, nur durch diese Nacht.
Meine Angst – ums Leben, wie um deinen Knecht
Petersburg: ein Sarg. In Särgen lebt man schlecht.

Am 2. Mai 1938 wurde Ossip Mandelstam wegen konterrevolutionärer Aktivitäten verurteilt, zu fünf Jahren Lagerhaft. Ende des Jahres starb er.

Auch im Doktor Schiwago von Boris Pasternak herrschen Dunkelheit und Angst. »Der Winter war da, der Schnee fiel in dichten, weichen Flocken. Jurij Andréitsch kam vom Krankenhaus nach Hause. ›Komarovskij ist da!‹ Mit diesen Worten empfing ihn Lara; ihre Stimme klang gedrückt und heiser.«

Komarovskij kommt dann gleich zur Sache: »Aber gerade darum werden die Strafinstitutionen, die jetzt vor ihrer Ablösung stehen, zu guter Letzt desto mehr wüten und desto eiliger ihre eigenen, lokalen Abrechnungen halten. Ihre Vernichtung, Jurij Andréitsch, steht bevor. Ihr Name steht auf den Listen.« Er solle sich retten. Schiwago schickt dann Lara weg und verspricht, nachzukommen, bleibt aber in Warykino. Schreibt unsterbliche Gedichte. Schreibt über Christus im Garten Gethsemane:

Die nächtlich finstre Ferne schien, als thronte
Das Wesenlose, die Vernichtung dort,
Nichts Lebendes im Raum des Weltalls wohnte,
Und nur der Garten war des Lebens Ort.       

 

 

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