Überbürokratisierung

Schauen wir noch ein letztes Mal in das Freisleben-Buch Medizin ohne Moral, das jedem im Gesundheitswesen Tätigen ans Herz zu legen ist. Der Allgemeinarzt spricht an, was viele Kolleginnen und Kollegen bedrückt: Da ist etwa der Aufwand für Information und Dokumentation, der auch in den Pflegeheimen allmählich überhandnimmt.

DSCN2013Die Krankenkassen pflegten statt einer Kultur des Vertrauens nun eine Kultur der Kontrolle, meint Freisleben auf Seite 46. Freilich muss ein Sozialstaat, der alle Belange in einer hoch strukturierten Gesellschaft verwalten will, Buch führen, und seit es den Computer gibt, fließen die Daten schneller. Manche Vorgänge laufen besser, doch wenn mehr geht, lassen sich das die Verwalter der Welt nicht entgehen, und sie füllen ihre Datensilos, die irgendwann zu gigantischen Datengräbern werden.

Doch man kann die Akteure mit Forderungen auch überlasten, bis ihnen die Lust vergeht. Der Autor schreibt:

Diese »kafkaesken«, aufwendigen Formalisierungen wurden allmählich für immer mehr Routinetätigkeiten eingeführt, vornehmlich für Verordnungen von Leistungen, die von den Kostenträgern als Einsparpotenziel angesehen werden. Die Begründung lautet immer, dies sei im Namen der Qualität notwendig. … Eine absurde Bürokratie, die der Arzt aufgrund von Zeitknappheit kaum korrekt bearbeiten kann, führt häufig zu dem offenbar erwünschten Effekt, dass für den Patienten notwendige Verordnungen entgegen ihrem Bedarf immer weniger getätigt werden. 

DSCN2006Die Zunahme an Formalien werde in einem Bürokratieindex gemessen, nach dem die Bürokratie der Ärzte 54,49 Millionen Arbeitsstunden im Jahr ausmache; dafür könnte man 4000 neue Ärzte einstellen. Für den Bereich der Altenpflege hat Thomas Klier in seinem 2014 erschienenen Buch Wen kümmern die Alten? festgestellt, dass (2012) Arbeitszeit im Gegenwert von zehn Prozent der gesamten Pflegeversicherung für die Dokumentation draufgehe. Die Bundesregierung bestellte dann eine Frau für die Entbürokratisierung, aber von ihr hat man nicht mehr viel gehört. Klier schreibt:

Hier hat sich die Qualitätssicherung völlig verselbstständigt  und diejenigen, um die es eigentlich geht, vollständig aus dem Blick verloren. Qualitätssicherung ersetzt die Moral der Handelnden und die Ethik in den Institutionen. Und sie zerstört damit die Grundlagen für die Motivation, einen Beruf zu ergreifen, der Menschen dient.

Qualitätskontrolle heißt das Zauberwort. Schon in den 1960-er Jahren kursierte der Spruch »Formulare, Formulare — von der Wiege bis zur Bahre«. Mein Vater war damals Steuerberater, aber schon in den 1980-er Jahren war er, ein Mann der alten Schule, mit der Fülle der Gesetze und Regelungen überfordert, die man heute auch im Bankwesen wohl nur noch durch den Computer einigermaßen im Griff behalten kann. Doch überblicken muss man das Chaos, denn irgendwo gibt es eine kontrollierende Instanz.

Die Pflegeheime fürchten den unangemeldeten Besuch des MDK, des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, der wie ein Polizeitrupp das Dokumentierte unter die Lupe nimmt und die Heimleitung unter Druck setzt. Bei manchen Bewohnern muss die Flüssigkeitsmenge notiert werden, die sie zu sich nehmen (kann man das immer?), und wann sie Stuhlgang hatten und wie der war. Die Form und Konsistenz erfasst übrigens der Bristol Stool Scale, das habe ich mir gemerkt, aber das wollte ich nur nebenbei bemerkt haben, weil das kurios ist.

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