Der Tod am Berg

Heute Karfreitag. Da kann es schon mal etwas traurig sein, aber dann, nach Ostern, hat der Tod mal eine Weile nichts zu suchen auf manipogo. Ich kann nichts für meine morbide Ader (und kann nichts dagegen tun), und Friedhöfe besuche ich auch gern. Aber wie sagt der Mexikaner: Wer das Leben liebt, liebt auch den Tod. Zumindest lässt er ihn dasein und leugnet ihn nicht. 

Maeder HerbertHerbert Maeder (1930-2017) war ein viel prämierter Fotograf, der sein Leben in den Bergen zubrachte. Er setzte sich für den Landschaftsschutz ein und war 12 Jahre (von 1983 bis 1995) Mitglied des Schweizer Nationalrats. Das ist, wie ich gerade lernte (und schon vergessen hatte) die große Kammer des Schweizeer Parlaments mit 200 Delegierten (Deutschland leistet sich 700 im Bundestag). Die kleine Kammer ist der Ständerat mit 46 Vertretern der Kantone. Übrigens lebte Maeder in seinen letzten Lebensjahren in Rehetobel bei St. Gallen, bekannt auf manipogo als Sitz des Velovereins Old Bicycle Fan Club.

In seinem 1980 erschienenen Bildband Gipfel und Grate erzählt Maeder von einer Tour 1975 zum Dritten Kreuzberg mit seiner damals zehnjährigen Tochter Andrea, auf der sie einen Todesfall aus der Ferne miterleben:

Da stürzt es vom Gipfel: Felsbrocken, aufschlagend wie Geschosse, hinabpfeifend durch die Südwand, und ein Buntes, Farbiges, ein Mensch, aufschlagend auf einem Felsvorsprung, sich überschlagend in der Luft, weggeworfen in den Abgrund — ein Geolter, mehr und mehr aus der Tiefe, ein paar nachrollende Steine — und dann Stille, unheimliche Stille.

Plötzlich macht die Tour keine Freude mehr. Später erfahren sie:

Das Opfer ist ein Mädchen, kaum zwanzig Jahre alt. Es hatte sich auf dem Gipfel losgeseilt, weil der Abstieg ja leicht ist. Aus Neugierde ist es wenige Schritte westwärts abgestiegen, wollte schauen, ob die Kameraden nachkommen. Dabei auf einem losen Block gestanden, das Gleichgewicht verloren …

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Ein falscher Tritt kann einem in großer Höhe das Leben kosten. Man muss immer konzentriert sein. Bergsteigen schenkt einem große Freuden, ist aber auch gefährlich. Auch Radfahren ist gefährlich, unsere schnelle Fortbewegung fordert eine Menge Opfer. Doch es sollte uns nicht von Unternehmungen zurückhalten. Unser Lebensende ist vorgezeichnet.

Ich erinnere mich, wie ich einmal den Friedhof Sulzburg besuchte, der sich neben der 1000 Jahre alten Kirche St. Cyriak erstreckt. Eine Frau deutete auf einen Grabstein mit zwei Namen und sagte: »Mein Mann, bei einer Bergtour am Herzinfarkt gestorben. — Und mein Sohn, tödlich abgestürzt. Man vermutete, dass sich sein Schnürsenkel irgendwo verhakt hat.«

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Die alpine Geschichte ist reich an Tragödien. Die Ausrüstung ist immer besser geworden, doch das Wetter bleibt eine Unwägbarkeit. Vorsicht ist immer anzuraten. Mein Vater sagte einmal, was absurd klingt: »Lieber eine Minute feig als das ganze Leben lang tot.«

Die Fotos habe ich auf dem Grindelwalder Friedhof gemacht, der unterhalb des Heimatmuseums liegt. Auch erfahrene Bergsteiger und sogar Bergführer sind am Berg geblieben. Sie kannten das Risiko. Doch es macht den Menschen aus, das Unbedingte zu suchen und sein Schicksal herauszufordern.

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Herbert Maeder schrieb in seinem Buch auch über seinen Schwiegervater Harry Siegerist, der nicht zu altern schien und gern seine Bassstimme ertönen ließ. Er kannte und liebte seine Berge und plante jede Tour genau. 1978 noch, mit 84 Jahren, schaffte er täglich einen mehrstündigen Aufstieg in der Nähe der Cristallina-Hütte.

Maeder bedauerte:

Ich hätte gern noch viele Touren mit Harry gemacht, aber der Scherenspitz sollte unser letzter gemeinsamer Gipfel sein. Im September brach er mit einem seiner besten Freunde zum Rheinwaldhorn auf. An einem makellosen Bergtag wurde ihm der steile Firnhang unter der Lentalücke zum Verhängnis; er glitt aus, prallte auf Fels, war tot. Harry fehlt uns sehr, aber er hatte, geistig und körperlich frisch, in einem hohen Alter einen raschen Tod gefunden. Was kann ein Bergsteiger sich Besseres wünschen, als nach einem reichen, erfüllten Leben mitten in den geliebten Bergen abzutreten von der Bühne dieses Welttheaters? Harrys Bergsteigerart bleibt mir ein Vorbild. Er hatte nie die ganz großen Touren gemacht, er war nicht einmal auf dem Matterhorn. Aber er hat in den Bergen, auf seinen Touren, eine vollkommene Liebe und Hingabe gezeigt und wurde belohnt durch ein hohes Maß an Glück und Zufriedenheit.

 

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