Tiger im Rettungsboot
Ein junger Inder ist über 200 Tage mit einem Tiger namens Richard Parker in einem Rettungsboot schiffbrüchig auf dem Pazifik unterwegs- Es ist großes Kino in 3-D, das der taiwanesische Regisseur Ang Lee in seinem Film Life of Pi serviert, das auf Deutsch Schiffbruch mit Tiger heißt und vor kurz nach vergangenem Weihnachten in unserem Land Premiere hatte.
Ang Lee brachte einen Roman des kanadischen Schriftstellers Yann Martel auf die Leinwand. Sein Film Eissturm von 1997 war mir noch lange in Erinnerung geblieben, er spielte auch in Kanada, und die Rahmenhandlung von Life of Pi ist ebenfalls dort, in Montreal, angesiedelt. Damit bleiben wir heute noch einmal in Kanada.
Der Inder, nun nicht mehr so jung, erzählt seine Geschichte einem Romanautor, und wir blicken zurück und erleben diese verrückte Geschichte, die einen mit zauberhaften Bildern verwöhnt: das Boot nachts, während das Plankton im Wasser glitzert; Blicke auf den Sternenhimmel und auf die Reflexe heerumzischender Fische und der Sonnenaufgang über dem reglosen Meer. Die rechtlichen Hinweise von der 20th Century Fox sind verwirrend, darum lassen wir das einmal mit Bildern. Die Seite zum Film mit den schönen Fotos ist hier.
Am Ende zwingt uns eine Bemerkung des Erzählers, die Odyssee in einem anderen Licht zu sehen. Da wird jemand, der betet und jegliche Hoffnung fahren lässt, auf wundersame Weise gerettet: War das Gott? Man sollte auch nicht zu viel über den Satz des Erzählers grübeln. Romanautoren sind keine Genies; sie haben keine Lösung, sie können nur gute Fragen stellen. Wenn eine Geschichte glatt aufgeht wie oft im Krimi, dann ist das Denksport, nicht Literatur. Literatur behandelt das Leben, und das ist wie die Erscheinungen der Quantenphysik: unbestimmt und unvorhersehbar. (Foto: vom Film, 20th Century Fox)
Auf mysteriöse Weise setzte der Film eine Unterhaltung zwischen mir und Giovanna am Vorabend fort. Ich berichtete über mein Buch, über die klassische Physik und die verrückte Quantenphysik, und da gibt es die Frage: Spaltet sich das Universum auf, wenn ich eine Entscheidung fälle, gibt es zwei Versionen der Welt? Und: Wie kann ich darüber sprechen?
Denn in der Welt der kleinsten Teilchen versagt unsere Sprache. Das Elektron ist weder ein Ding noch hat es einen bestimmten Ort. Und so steht der Schriftsteller, der immer eine passende Floskel parat hat, für den klassischen Zugang, während der Erzähler nur lächelnd sagt: »Wenn Sie meinen.« Die Welt ist anders, unbestimmt und chaotisch. Man kann nicht sagen, dass Gott eingegriffen hätte; man kann nur sagen: So war es. Das ist die Geschichte, was immer sie besagen mag. Denk nicht zuviel darüber nach. Zen.
Der Tiger steht für die Natur und die Welt. (Was vielleicht eine unzulässige Interpretation ist.) Der Mensch kann ihn/sie nicht verstehen. Der Tiger ist weder mein Freund noch mein Feind, wie das Elektron weder Teilchen noch Welle ist. Er ist etwas, das man nicht mit menschlichen Begriffen ausdrücken kann, und auch wenn es eine Art Verständnis zwischen beiden – dem Tiger und dem Inder – gab. Was wir über diese Welt da draußen sagen, sind nur hilflose Annäherungen. Vielleicht sprechen wir dabei auch über unsere Welt da drinnen. Wir müssen darüber sprechen, doch so, als sprächen wir über einen Roman. — Gestern ist in einem Privatzoo in Kalifornien laut CNN eine 24 Jahre alte Tierpflegerin von einem Löwen getötet worden. Die junge Frau soll ihre Arbeit und die Tiere über alles geliebt haben, und niemand versteht, warum sie das Freigehege betrat.
Die Natur, in der wir uns bewegen, trägt keine menschlichen Züge. Aber vielleicht gibt es eine Kraft, die auf unser Bewusstsein reagiert, wenn der Appell intensiv genug ist. In der Quantentheorie spricht jedenfalls vieles dafür.