Die Hand
Es war gestern, kurz vor dem Aufwachen. Ich hielt diese Hand in der meinen und küsste sie; ich machte so halb die Augen auf und sah sie tatsächlich, da in meiner Hand, und küsste sie nochmals, es war ganz echt; und dann wachte ich so langsam auf, kam herauf aus dem hypnagogen Zwischenreich zwischen Schlaf und Wachen. Wie wirklich das gewesen war! Wie eine echte Hand.
Es ist beim Aufwachen, als tauche man tatsächlich auf − wie ein Taucher. Man durchquert dabei, bevor man die Wasserfläche mit dem Kopf durchstößt, eine Zone, die unserer Realität ähnlich sieht, aber zu einer anderen Dimension gehört. Beim Rückweg – beim Einschlafen oder kurz davor – taucht man darin ein. Wenn ich so döse, die Beine auf den Schreibtisch gelegt, gleite ich oft diese Zone, und dann erlebe ich blitzartig eine detaillierte Szene, die sofort wieder verblasst, oder ich höre gesprochene Sätze und sehe Bilder, mit denen ich nichts anfangen kann. Wenn man einschläft, sackt man wie ein Sack durch diese Zone hindurch − in die Traumzeit.
In dieser Zwischenzone kurz vor dem Aufwachen ist die Wahrscheinlichkeit real wirkender Erlebnisse am größten. Diese Hand fühlte sich so echt an. Es war eine gebräunte Hand, eigentlich eher eine Kinderhand. Ich hatte sie in der meinen. Was heißt es, zu träumen? In welchem Raum sind wir und, vor allem, was heißt »wir«? Bewegen wir uns real umher? Glaube ich nicht. Nicht immer tun wir das. Unser Gehirn kann uns alles vorspielen, und es ist, als säßen wir im Kino und erlebten diese Szenen mit. Das Gehirn hat ja alles gespeichert und ist ein guter Regisseur. (Illustration: die Hand von Whitney Houston.)
Menschen, die außerkörperliche Reisen unternehmen können, sagen immer, dass nach dem Einschlafen der zweite Körper des Menschen leicht gelockert über diesem schwebt. Der zweite Körper ist ein Duplikat unseres physischen Körpers und in diesen eingelagert, über ihn etwas hinausragend wie eine Hülle und unsichtbar natürlich, da aus elektromagnetischer Strahlung bestehend. Hier ist alles gespeichert, was uns betrifft, und dieser Körper, der wir sind, trägt »uns« (das, was wir sind) nach dem Tod in die andere Welt.
Wenn ich meine, dass ich im Zwischenreich in jenem anderen Körper bin, dann denke ich mir, dass Lillo dort drüben dasselbe empfinden kann wie ich hier: eine Hand in seiner Hand, die sich echt anfühlt und die man küssen kann. War sie da, echt da? Von meinem Traum-Ich her muss ich sagen: Sie setzte mir Widerstand entgegen, sie fühlte sich echt an, nichts spricht dagegen. Manchmal erzählt jemand: Ich habe einen Verstorbenen im Traum getroffen, und es wirkte so echt; dann war es vielleicht eine tatsächliche Begegnung im Zwischenreich. (Illustration: die Hand von Whitney Houston, 2.)
Wenn der Physiker Hans Peter Dürr sagt Es gibt keine Materie! (in einem neuen Buch, in dem er sich mit Peter Michel über Bewusstsein und den Kosmos unterhält), dann leugnet er nicht die Objektivität der Außenwelt, sondern sagt, dass Materie nicht so ist, wie wir sie uns vorstellen: nicht hart und undurchdringlich. Materie ist »ontisch« da, sie existiert, aber sie ist im Grunde leerer Raum. In einer Kathedrale in der Mitte ein Reiskorn, der Atomkern, und drum herum kreisen ein paar Elektronen, nicht mal so schnell, mit 300 Kilometern pro Sekunde.
Das Licht ist hundert Mal schneller, 300000 Kilometer pro Sekunde schnell. Zwischendrin ist viel Platz. Ich kann nur wahrnehmen, was in meiner Schwingungsbreite liegt. Der verstorbene Lillo ist irgendwo, aber ich kann ihn nicht sehen. Aber so wie beim Aufwachen, diese echte Hand in der meinen, die dann verschwand, so könnte es sein, in der anderen Dimension sich zu befinden, aus der Zeugen oft berichten, es sei im Jenseits fast wie auf der Erde: eine ihnen real vorkommende Umgebung.
Sie ist hier, diese Dimension, vielleicht nur einen Zentimeter entfernt, und schon eine Veränderung der Atmosphäre – ein heraufziehendes Gewitter, eine Entladung – kann uns die Augen öffnen. Oder im Halbschlaf sind wir dort, ohne es zu ahnen.