Das verehrte Symbol
Die Schlange wurde seit frühester Zeit und in allen Kulturen verehrt, und der anonyme Autor, der 1889 Ophiolatreia schrieb (lateinisch für Schlangenverehrung), nennt dies eine der bemerkenswertesten und seltsamsten Formen von Religion — warum sollte man ein abstoßendes Reptil anbeten? Und doch war es eine universelle Erscheinung.
Knüpfen wir gleich noch an gestern an, an die Vertreibung aus dem Paradies. Die gnostischen Kabbalisten haben ihre eigene Version. Sie sagen, nicht Adam und Eva seien vertrieben worden, nein: Sie hätten Gott vertrieben, weil sie animalischen Sex hatten. Gott sei der Oruboros, das unsichtbare und sichtbare Feuer, und es könne in Adam das sexuelle Feuer der Schlange entzünden. Durch den »tierischen« Orgasmus allerdings wird Schöpfungsenergie vergeudet; schießt das sexuelle Feuer der Schlange jedoch die Wirbelsäule hoch, kann sie umgewandelt werden und wird kreativ. Originell.
Im uralten Ägypten gab es den Mythos, dass die Schlange Kneph durch einen Gedanken ein Ei produzierte, aus dem erst der Schöpfer der Welt kroch. In Ägypten wurde die Schlange lange verehrt. Der Schreiber-Gott Thot wurde zum Heiler und hatte als erster den Stab mit zwei sich daran emporringelnden Schlangen, den Caduceus. Später soll der Grieche Äskulap, sein Schüler, von einer Schlange seine Arzneien bekommen haben.
Bei Abury nur 30 Kilometer von Stonehenge entfernt gibt es ein altes Steinmonument, das von oben sich wie eine Schlange ausnimmt. Es heißt Serpentine Temple und soll 4000 Jahre alt sein (Die Serpentine kommt natürlich von serpent, der Schlange). Die gallischen Druiden verehrten den Drachengott Hy, dessen Fahrzeug von Schlangen gezogen wurde.
Die mittelamerikanischen Kulturen der Azteken und Mayas kannten den Quetzalcoatl, den gefiederten Gott, der Himmel, Erde und Ozean repräsentiert. Schon aus dem Jahr 1000 vor Christus sind Darstellungen bekannt. Aus dem Jahr 1000 unserer Zeitrechnung stammt die Große Schlange vom Bush Creek im US-Staat Ohio, ein Weg, der vermutlich für rituelle Zwecke angelegt wurde.
Warum die Verehrung der Schlange? Zunächst assoziierte man mir ihr das Leben und zwar das nie aufhörende. Schlangen werfen periodisch ihre Haut ab und lassen sie zurück. Die Schlange konnte auch stehen für Weisheit, die Sonne, Verlangen, die Zeit, Fruchtbarkeit und den Phallus. Und es mag das Rätselhafte in ihr mitgespielt haben, das Gleitende, Gefährliche. Übrigens lässt sich aus dem Gift der Schlange das Gegengift entwickeln; sie hat beides in sich.
Darauf hat Arnold Mindell hingewiesen, der die Schlange vom psychologischen Standpunkt als ein sehr kompliziertes Symbol bezeichnete. Sie stehe für die Grenze zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten. Auch das Kundalini-Phänomen erwähnte er: Energie jagt die Wirbelsäule hoch, begleitet von Ekstase. Die Schlange stehe für den Lebensprozess, autonome Gedanken und spontane Körpererfahrungen. Was genau sie bedeutet, hängt vom jweiligen Fall ab. Auch als Symbol ist die wendige, rasch verschwindende Schlange nicht leicht zu fassen.