Liebe im Ghetto
Manchmal stehe ich in den Katakomben der Freiburger Universitäts-Bibliothek, wo man die Bücher aus dem Regal holen kann; und dann merke ich, dass ich mir die Nummer falsch notiert habe. Dann nehme ich zum Trost ein anderes mit, das mich inspiriert: Das war an einem Tag im April Reise in den Tod von Gertrude Schneider: »Deutsche Juden in Riga 1941−1944« (Laumann-Verlag Dülmen, 2008).
Es geht um das Ghetto in Riga, das zu Kriegsbeginn 350000 Einwohner hatte, unter ihnen 35000 Juden. Die Stadt wurde am 1. Juli 1941 von der deutschen Wehrmacht besetzt, und im August wurden 30000 lettische Juden ins Ghetto gepfercht. Es war geplant, 25000 »Reichsjuden« dort einzuquartieren, und um »Platz zu schaffen«, trieben deutsche und lettische Soldaten die Ghetto-Bewohner in den Rumbula-Wald, wo Gruben vorbereitet waren. Dort wurden dann am 30. November sowie am 8. und 9. Dezember 1941 25000 bis 28000 lettische Juden erschossen. (Illustration: das Titelbild des Buchs. Das Bild zeigt die Ankunft eines Transports von 1031 Juden aus Bielefeld. 102 überlebten.)
Im Ghetto lebten nach Ankunft der Transporte 20000 Juden, von denen in wenigen Monaten 5000 starben. Aber das Leben war einigermaßen erträglich und geregelt – bis am 16. und 17. März 1942 bei einer Aktion der SS 1900 Reichsjuden erschossen wurden. Das war ein Schock für die Insassen. Selbstmorde häuften sich. Eine Familie setzte sich nachts in den Hof und wurde morgens erfroren aufgefunden. Dann kam der Frühling und etwas wie Hoffnung.
Im deutschen Ghetto gab es kaum Männer, im lettischen kaum Frauen. »Die lettischen Juden hatten viel mehr zu essen als die deutschen, und so konnten sie sich ›Liebe‹ kaufen«, schreibt Gertrude Schneider, doch die jungen Leute seien oft wirklich ineinander verliebt gewesen, »und es gab viele innige Zuneigungen und Verbindungen, die bis ans Ende des Lebens der Ghettoinsassen anhielten«. Ehen wurden häufig geschlossen, und die Paare konnten auch miteinander leben. Die Bürokratie musste mitspielen, doch Verbindungen zwischen lettischen Juden und deutschen Jüdinnen waren nicht genehm.
Dennoch blieben einige dieser Paare auch nach dem Krieg zusammen, und auch überlebende Reichsjuden heirateten einander nach dem Krieg. Gertrude Schneider meint, es seien gute Ehen geworden, weil die gemeinsame Geschichte ein Band war; Außenstehende ermahnten die früheren Ghetto-Insassen immer, alles zu vergessen, aber das ging nicht; sie mussten darüber sprechen.
Rella Walzer war ein besonders hübsches Mädchen. Sie kam aus Wien. In Riga verliebte sich Unteroffizier Sass in sie, was ihrer Schwester Lotte und einer anderen, Hilde Sherman, nicht gefiel. Später starben Lotte, Rella und Sass durch eine Bombe. 1942 wurden Plakate im Ghetto ausgehängt, auf denen es hieß, dass Geschlechtsverkehr verboten sei. 1942 gab es viele Schwangerschaftsabbrüche im Ghetto.
In diesem Jahr konnte auch Karel Besen – ein tschechischer Ex-Boxer, der auch der SS zur Hand ging – seine Rosa Mayer heiraten. Er hatte sie oft im Ghetto besuchen können. Ende Mai kam er einmal in ihre winzige Wohnung, und Rosa und ihre Schwester baten ihn, ihren Vater zu retten. Was sie dafür tun würden? Fragte er. Sie würden seine Lieblingslieder singen, und sie taten es, und Besen weinte. Karel Besen hielt auch Wort und schaffte es, zehn Männer, darunter den Vater, zu befreien.
Besen kam später auch ins Ghetto und wurde der jüdischen Polizei zugeteilt. Er »schloss eine Ghetto-Ehe mit der freudestrahlenden Rosa Mayer. Im Hof hinter dem Haus wurde gefeiert … Karel und Rosa bestanden darauf, dass Rita und ich [Gertrude Schneider] das Lied ›Wer uns getraut‹, aus der Strauß-Operette Der Zigeunerbaron sangen. Wir taten es, mit dem Text in der Hand. Meine Mutter hatte die Worte für uns aufgeschrieben, die Melodie kannten wir sowieso. Beide blieben im Ghetto bis zum Herbst 1943. Vom KZ Kaiserwald wurden sie zu verschiedenen Kommandos geschickt. Den Krieg haben sie nicht überlebt.«