Spurlos

Wie schön war es, noch das Buch »Soul Mountain« von Gao Xingjian vor sich zu haben! Jedes Kapitel war neu und was geschah, unerwartet, und so, denke ich mir, sollte ein Buch wirken. Aber für heute ein Bekenntnis des chinesischen Autors, das ich für mich 100-prozentig unterschreiben möchte. Es gibt sie überall und weltweit, die Freigeister.

Exakt auf Seite 400 schreibt der Literatur-Nobelpreisträger, der nun auch schon 83 Jahre alt ist (als er das Buch anfing, 1982, war er 40; als er es beendete, 1989, noch nicht 50), ganz deutlich über seine Ziele. Er hat gerade wieder einmal ein junges Mädchen kennengelernt, das ankündigte, ihn vielleicht zu besuchen. Ich übersetze nun aus der englischen Übersetzung von Mabel Lee:

»Ich trinke etwas Tee und erlebe einen Augenblick lang ein bitteres Gefühl: Reue. Vielleicht kommt sie eines Tages vorbei, vielleicht nicht. Dennoch blicke ich erfreut auf diese zufällige Begegnung zurück. Ich würde solch ein unschuldiges Mädchen nicht verfolgen, und vielleicht werde ich auch niemals eine Frau lieben. Die Liebe ist zu beschwerlich. Ich muss mein Leben unbeschwert führen. Ich suche schon nach dem Glück, aber ich will nicht Verantwortung übernehmen. Es folgt immer die Heirat, und danach kommen Ängste und ungute Gefühle. Ich bin zu gleichgültig geworden, und niemand kann nunmehr mit Leidenschaft mein Blut zur Wallung bringen.

Ich nehme an, ich werde alt, und das Wenige, das übrig ist, geht allenfalls noch als Neugierde hin, und mangelndes Begehren führt dazu, dass es zu keinem Ergebnis kommt. Dieses Ergebnis sich vorzustellen ist nicht übertrieben schwer und würde beschwerlich werden. Ich lasse mich lieber treiben und möchte am liebsten keine Spuren hinterlassen. Es gibt so viele Menschen und so viele Plätze in dieser großen, weiten Welt, die man aufsuchen könnte, aber nirgendwo ist ein Platz, an dem ich Wurzel schlagen, ein kleines Heim haben und ein einfaches Leben führen möchte. Ich treffe immer dieselbe Art Nachbarn, sage dieselben Dinge, Guten Morgen oder Hallo, und bald werde ich schon wieder von den endlosen Belanglosigkeiten des täglichen Lebens eingewickelt. Bevor das zum Muster wird, werde ich dessen müde geworden sein. Ich weiß, mir ist nicht zu helfen.

 

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