D’Alemberts Traum und Mademoiselle Lespinasse
Fangen wir mal eine Serie über den Traum an unter dem Überbegriff »Das Leben als Traum«. Morgen mehr davon. Heute zum Einstieg den Traum des d’Alembert, geschrieben von Denis Diderot 1769, veröffentlicht erst 60 Jahre später, 1830. Der Philosoph D’Alembert spricht im Traum, und es entspinnt sich ein Gespräch über die menschliche Natur zwischen Mademoiselle de Lespinasse und Doktor Bordieu. Unterhaltsam!
Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (1717-1783) war der Mitarbeiter von Denis Diderot (1713-1784) bei ihrer Enzyklopädie, einem gewaltigen Werk des 18. Jahrhunderts, entstanden zwischen 1751 und 1772. Es fasste das Wissen seiner Zeit zusammen. Die Geschichte des Traums war eine Kurzfassung von Diderots Interessen. D’Alembert spricht im Traum vor sich hin, Mademoiselle (Julie) de Lespinasse schrieb alles auf und setzte sich mit Dr. Bordieu darüber auseinander.
Aber, als ich so darüber nachdachte, kam ich zu dem Schluss So interessant ist das auch wieder nicht. Vielleicht widmen wir uns besser der Mademoiselle, die auf den 100 Seiten von d’Alemberts Traum ja eine wichtige Rolle hat: als Sekretärin des Träumers und als Stichwortgeberin für den klugen Arzt.
Julie de Lespinasse (1732-1776) unterhielt in Paris einen Salon, den viele Geistesgrößen besuchten. D’Alembert war der wichtigste Mann unter ihnen. Die französische Wikipedia schreibt lang und breit über Lespinasses Leben und Wirken, und wie charmant und geistreich sie das tut! Ein Genuss! Die Mademoiselle soll nicht schön gewesen sein, aber eine magnetische Ausstrahlung besessen haben. Sie hatte einige Geliebte, war schwer krank und starb schon mit 43 Jahren.
Geboren wurde sie in Lyon, und die Wikipedia fasst ihr Leben grob so zusammen: 22 Jahre in der Provinz, 22 in Paris. Sogar Lyon als zweitgrößte Stadt Frankreichs ist eben Provinz, nichts zu machen. Mit 14 Jahren verfügt sie schon über Bildung (sie hat die Werke Shakespeares gelesen, kennt die von Racine und Voltaire). Der Vater schickt sie in einen Konvent (eine Bildungsanstalt), bis sie heiratet oder Nonne wird. Dann kommt Madame de Deffand und entführt sie nach Paris.
Die Madame unterhält einen literarischen Salon, den man nach 18 Uhr besucht und danach bei ihr speist. Julie wird gut aufgenommen, sie spricht leise, kann zuhören und auch eigene Beiträge liefern. Madame de Deffand steht immer erst am Nachmittag auf und hat Probleme mit dem Augenlicht; sie braucht Hilfe.
Das geht fast zehn Jahre gut — bis die ältere Dame Julie als Rivalin erkennt. Viele Besucher kommen etwas früher und besuchen erst Julie de Lespinasse, bevor sie hinuntergehn zur Madame. Die Hölle bricht los. Die Salonbesitzerin konfrontiert d’Alembert und fordert, er solle sich zwischen ihr und Julie entscheiden. Er wählt Julie, die 1764 dann einen eigenen Salon eröffnet, 100 Meter von dem ihrer Rivalin entfernt. Zwar ist Julie nicht reich, aber 4 Dienstboten hat sie doch.
D’Alembert ist auch bei ihr der Star. Geplaudert wird über Musik und Philosophie, und hierher kommt, wer in die Académie francaise aufgenommen werden will, die die französische Sprache behütet. Unter einer mächtigen Kuppel in Paris tagen seit 1635 die 40 »Unsterblichen« (so genannt wegen der Inschrift Unsterblichkeit am Gebäude), von denen es mittlerweile 740 gibt, die natürlich nur symbolisch unsterblich sind. Wird durch Tod ein Platz frei, kann man sich bewerben, und in 3 Monaten fällt eine Entscheidung. Julie leitet souverän ihren Salon, obwohl sie an Pocken erkrankt ist, was ihr Narben im Gesicht zufügt. Später leidet sie auch noch unter Tuberkulose. Regelmäßig nimmt sie Opium.
Mit d’Alembert verbindet Julie eine innige Freundschaft. Der Marquis de Mora, zehn Jahre jünger, verliebt sich aber in sie. Er ist frei und schreibt hitzige Briefe. Als er seinem Vater mitteilt, er wolle Julie heiraten, tobt dieser, und der Marquis muss zurückkehren — wie dann noch einmal, als er zum Brigadegeneral befördert wird. Doch die Rückkehr nach Paris über die verschneiten Pyrenäen überlebt er nicht. (»Ich sterbe für Sie!« schreibt er.)
1772 lernt Mademoiselle de Lespinasse Jacques de Guibert kennen (Portrait rechts) und verliebt sich in ihn. Der Salon tritt nun in die zweite Reihe. Doch der Vater von Jacques hat aufwendig gelebt und Schulden gemacht, sein Sohn muss das mit einer Heirat gutmachen — und die Erwählte ist 17 Jahre alt.
Julie de Lespinasse ist tief enttäuscht. Von da an ist ihr Dasein, untergraben durch die Tuberkulose, eine Agonie. Im Oktober 1774 hatte sie geschrieben:
Wenn man einen derartigen Grad von Ekel erreicht hat, dass man sich fragen muss: wofür ist das gut? Wenn man nichts mehr erhofft und jeden Abend spürt, dass man sich glücklich schätzen würde, nicht mehr aufzuwachen, dann, mein Freund, ist man auf dieser Welt überflüssig.
Sie starb am 29. Juli 1776. Ihr Plan, der Nachwelt nur den Marquis de Mora als ihren Liebhaber zu bieten, ging nicht auf: 1809 veröffentlichte Guiberts Witwe die Briefe zwischen ihm und Julie de Lespinasse.