Seelenfrieden

Das Buch von Oliver Sacks haben wir sicher gelesen, als wir jung waren, doch habe ich damals (1985) den therapeutischen Ansatz des Neurologen, habe ich das Positive wahrgenommen? Ich fürchte, wir haben das Buch nur als Kuriositätenkabinett betrachtet, und der Titel legt es auch nahe. Wie immer steckt mehr drin, sehr viel mehr.

Dr._Oliver_Sacks,_Physician,_AuthorEs werden 20 Fälle geschildert, da kann man nur ein paar herausgreifen, aber auch so entsteht ein Gesamtbild. Oliver Sacks kommt am Ende seiner Fallbeschreibung stets zu einem Ausblick und schildert, wie diese schwer gestörten Patienten dennoch zu einer Art Seelenfrieden fanden. (Links der Autor im Jahr 1985, als das Buch erschien.)

Da war zum Beispiel Jimmie G., ein Seemann, der 1975 in das Altenheim gebracht wurde, in dem Sacks als Neurologe tätig war. Jimmie war 49 Jahre alt und litt unter dem Korsakow-Syndrom: Wahrnehmungen verschwanden binnen Sekunden, und die vergangenen 30 Jahre waren wegen einer Amnesie (Gedächtnisverlust) nicht existent. Jimmie G. sah sich 1945 als 20-Jährigen, und mehr gab es nicht. Er, der »verlorene Seemann«, kam zwar allmählich zurecht, aber eigentlich, so sagte er selber, fühlte er »überhaupt nichts«; nicht mal, dass er lebendig war. Im Gottesdienst veränderte er sich allerdings. Sacks:

DSCN3034Die Schwestern hatten recht gehabt: Hier, im Gottesdienst, fand er seine Seele … wenn seine Aufmerksamkeit emotional oder spirituell beansprucht war — zum Beispiel bei der Betrachtung von Kunstwerken oder der Natur, wenn er Musik hörte oder an der Messe teilnahm —, dann bestand diese Aufmerksamkeit, ihre »Stimmung« und ihre innere Ruhe, noch eine Weile fort, und er strahlte eine Nachdenklichkeit und einen Frieden aus, den wir sonst, wenn überhaupt, nur selten an ihm bemerkten.

Auch William Thompson, ein Kaufmann, litt unter Korsakow. Er erzählte die ganze Zeit erfundene phantastische Geschichten, und Sacks erwähnt, er habe sich in jeder Sekunde »neu erfinden« müssen, und jede Sekunde habe er den Bruch in seinem Leben überbrückt. So wirkte er auf andere wie ein Komödiant, ein Harlekin, ein genialer Entertainer, der jedoch stets unter Druck war und jegliches Gefühl vermissen ließ. Sobald er unter Menschen war, drehte er auf — und musste das offenbar tun. Sacks:

088Aber wenn wir unsere Bemühungen einstellen und ihn sich selbst überlassen, geht er zuweilen hinaus in die Stille des Gartens, der das Heim umgibt und der keinerlei Ansprüche an ihn stellt. Und dort, in dieser Stille, findet er seine eigene Ruhe wieder.

Die Pflanzen ließen ihn eine wortlose Verbundenheit mit der Natur erleben und gaben ihm das Gefühl wieder, »wirklich zu sein und zur Welt zu gehören«.

Rebecca, die 19-Jährige, schien eine »Ansammlung von Behinderungen und Unfähigkeiten« zu sein, »mit allen Frustrationen und Ängsten, die diesen Zustand begleiten«. Dann sah der Neurologe sie im Frühing in einem dünnen Kleid glücklich auf einer Bank sitzen, und sie erinnerte ihn an ein Mädchen im Tschechow-Stück »Der Kirschgarten«. Selbstkritisch merkt er an:

Wir widmeten — und Rebecca war die erste, die mir das sagte — den Behinderungen unserer Patienten viel zuviel Aufmerksamkeit und beachteten viel zuwenig, was intakt oder erhalten geblieben war.

32728010417_2be3616654_bFür Rebecca fand sich etwas, das sie aufblühen ließ: Theaterspielen (links eine Szene des Moskauer Theaters; gespielt wird »Der Kirschgarten«).

Sie machte ihre Sache erstaunlich gut: In jeder Rolle wurde sie ein ganzer Mensch und agierte flüssig mit Ausdruckskraft und aus einem inneren Gleichgewicht heraus. Das Theater und die Theatergruppe waren bald ihr Leben geworden, und wenn man sie heute auf der Bühne sieht, würde man nicht auf den Gedanken kommen, dass sie einmal als geistig behindert galt.

 

Der kleine José war zwar als Autist eine Art menschlicher Insel, von anderen Menschen abgeschnitten, doch Sacks betont, es könne

lebenswichtige, intensivierte »vertikale« Verbindungen geben: direkte Verbindungen mit der Natur und mit der Realität, die unmittelbar sind und sich dem Einfluss anderer entziehen. Dieser »vertikale Kontakt« ist bei José besonders ausgeprägt — daher die große Treffsicherheit, die absolute Klarheit seiner Wahrnehmungen und Zeichnungen. 

330px-OliversacksDer Autor, Oliver Wolf Sacks, kann nicht ausgespart werden. Er soll hoffnungslos exzentrisch gewesen sein, nahm in den 1960-er Jahren Drogen und erzählte gern, wie er seinen ersten Orgasmus bekam (spontan, im Pool treibend). Er soll zeitweise unter derselben Krankheit gelitten haben wie der Mann, der »seine Frau mit einem Hut verwechselte«. Als er 40 war, arbeitete er viel und lebte zurückgezogen. Sacks heiratete nie und erklärte in seiner Autobiografie, die im Jahr seines Todes erschien, er habe 35 Jahre wie ein Mönch gelebt, denn er sei homosexuell. (Rechts zwei Jahre vor seinem Tod.)

Und, kaum zu glauben — auch er fand seinen Frieden und persönliches Glück, vor dem Tod noch. Oliver Sacks lernte 2009 den New Yorker Autor Bill Hayes kennen, und die anfängliche Freundschaft wurde zu einer festen Beziehung, die Sacks noch 6 Jahre genießen durfte. Wie sagen die Engländer: »All’s Well That Ends Well.« Ende gut, alles gut.

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