Auf dem See

Nun bin ich eine Woche in Zürich. Mache eine Radtour am See, sehe den bewaldeten Horizont von links bis rechts von der Terrasse, und die Sonne verschwindet lngsam in den Wolken. Ich war vier Wochen in meiner Wohnung, ohne verreist zu sein, länger geht nicht. Nur das Buch und viele Gedanken, das kostet Energie. Nun sieht die Welt schon wieder anders aus.

Und kaum bricht man wieder auf, macht man Erfahrungen mit dem Geist. Die Dinge, die zusammengehören, finden zusammen. Ich fuhr mit dem Rad durch Zürich und unten am See bis Horgen, und dann nahm ich die Fähre nach Meilen, die alle siebeneinhalb Minuten abfährt und schnell am anderen Ufer ist. Da war ein älterer Mann mit einem schicken gelben Rennrad, und es stellte sich heraus, dass es für uns beide die erste Fahrt mit dem Rad nach einer Totalüberholung war: Beide Räder hatten neue Ketten und Zahnkränze bekommen, was man nur alle eineinhalb Jahre macht. Wir reichten uns die Hände.

 

Auf dem See während der wenigen Minuten war ich euphorisch. Man ist im Niemandsland, gehört nirgends dazu, das Leben beginnt am anderen Ufer wieder neu, und dann fährst du hoch den Berg. Eigenartig: Ich stellte mir an diesem strahlenden Tag plötzlich die Frage, wie ich reagieren würde, wenn Gott mein langes Leben bis jetzt mir rasch vorspielen würde und fragen würde: Du kannst das Leben wählen, und wir löschen gleich alles, damit du vergisst, was du gesehen hast; und du kannst ablehnen. Und zu meiner eigenen Überraschung sagte ich: Nein, ich würde es lieber nicht wollen.  

Es war ja ein ruhiges, gutes Leben mit wenig Dramen und auch viel Genuss. Und dennoch überwog der Schmerz das Schöne, und so vieles war zu durchleiden, bis man zur Seelenruhe findet (wann?). Meine besten Freundinnen und Freunde sagen, wenn es Reinkarnation gäbe, würden lieber nicht nochmal wiederkommen. Einmal reicht. Auch sie finden anscheinend, dass das Leben ein harter Trip war. Woran liegt das? Wir sind ja privilegiert, haben keinen Krieg erlebt und hungern nicht.

Es fällt schwer, uns nicht zu denken. Wir könnten ja auch nicht sein. Aber wir sind, und wir sind ein Geschenk für uns und die anderen. Wir sind noch zu tief drin, haben noch ein paar Höhenmeter zu bewältigen. Am Ende, wenn es geschafft sind, sagen alle vielleicht: Ja, war eine tolle, harte Tour. Wir lernen ja auch dabei und nehmen dann mit neuen Erfahrungen eine neue Tour in Angriff. Vielleicht machen wir doch noch eine Runde auf dem Karussell, und wir treffen uns wieder, irgendwo. Und wir werden uns erkennen.

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