Liebesgedichte aus Chile
Chile hat zwei Literatur-Nobelpreisträger hervorgebracht: Pablo Neruda (1904-1973) und Gabriela Mistral (1889-1957). Ich war zwei Mal in Chile; beim ersten Mal sah ich das Haus von Neruda auf der Isla Negra am rauschenden Pazifik, beim zweiten Mal war ich in der Valle del Elquí, dem Tal, aus dem die Mistral stammt.
Beide wurden sie in den 1920-er Jahren mit ihrer Lyrik bekannt. Neruda war ab 1927 im diplomatischen Dienst, vorwiegend in Südostasien, Mistral fing 1933 an und wurde Konsulin in Madrid, als die sie Neruda womöglich um 1935 abgelöst hat; die beiden werden sich schon gekannt haben. Während Mistral weiter in Brasilien und den USA blieb, kehrte Neruda nach ein paar Jahren im Exil immer wieder in sein Heimatland zurück.
Gabriela Mistral erhielt den Preis 1945, Pablo Neruda 1971. Er starb am 23. September 1973, heute vor 40 Jahren und zwei Tage nach dem Putsch von General Pinochet, bei dem sich der damalige sozialistische Staatschef Salvador Allende das Leben nahm. Die dunkle Zeit dauerte bis 1989, bis zu den ersten demokratischen Wahlen, und ich erinnere mich, wie mein Freund Hans und ich durchs Land reisten und überall Wahlveranstaltungen sahen, und einmal war Patricio Aylwin, der Kandidat, im selben Hotel wie wir, unten im Süden. (Gabriela, la divina, wie man sie nannte: göttlich)
Pablo Neruda war auch im Westen immer ein Liebling der Linken. Er widmete seine Lieblingsgedichte seiner Matilde; Gabriela Mistral besang meist einen abwesenden Liebhaber, der sich 1909 das Leben genommen hatte, wie auch Nelly Sachs (Nobelpreisträgerin 1967) ihre Gedichte an einen unbekannten fernen Liebsten richtete. Nerudas Gedicht Cada Día Matilde hat mich immer bezaubert:
Hoy a ti: larga eres
como el cuerpo de Chile, y delicada
como una flor de anís,
y en cada rama guardas testimonio
de nuestras indelebles primaveras.
Qué día es hoy ? Tu día.
Y mañana es ayer, no ha sucedido,
no se fue ningún día de tus manos ;
guardas el sol, la tierra, las violetas
en tu pequeña sombra quando duermes.
Y así cada mañana
me regalas la vida.
Tag für Tag Matilde
Heute zu dir: lang gewachsen bist du
wie der Leib von Chile, und zart
wie eine Blüte des Anisbaums,
und an jedem Zweig wahrst du ein Zeugnis
unserer unauslöschlichen Frühlinge;
Welcher Tag ist heute? Dein Tag.
Und morgen ist gestern, kein Tag aus deinen Händen
hat einen andern abgelöst, keiner ist vergangen:
du bewahrst die Sonne, die Erde, die Veilchen
in deinem kleinen Schatten, wenn du schläfst.
Und so schenkst du mir
jeden Morgen das Leben.
(Übersetzung: Fritz Vogelsang)
Nun Gabriela Mistral: Scham.
Wenn du mich anblickst, werd’ ich schön,
schön wie das Riedgras unterm Tau.
Wenn ich zum Fluß hinuntersteige,
erkennt das hohe Schilf mein sel’ges Angesicht nicht mehr.
Ich schäme mich des tristen Munds,
der Stimme, der zerriss’nen, meiner rauhen Knie.
Jetzt, da du mich, herbeigeeilt, betrachtest,
fand ich mich arm, fühlt’ ich mich bloß.
Am Wege trafst du keinen Stein,
der nackter wäre in der Morgenröte
als ich, die Frau, auf die du deinen Blick geworfen,
da du sie singen hörtest.
Ich werde schweigen. Keiner soll mein Glück
erschaun, der durch das Flachland schreitet,
den Glanz auf meiner plumpen Stirn nicht einer sehen,
das Zittern nicht von meiner Hand …
Die Nacht ist da. Aufs Riedgras fällt der Tau.
Senk lange deinen Blick auf mich. Umhüll mich zärtlich durch dein
Wort,
Schon morgen wird, wenn sie zum Fluß hinuntersteigt,
die du geküsst, von Schönheit strahlen.