Das schwarze Loch
Im November traf ich in Berlin Michael, einen früheren (Journalisten-)Schulkameraden, der sich zum Marxismus bekennt. Seine kritische Ader steckt einen an. Ich las wieder einmal Hakim Bey und fand in einem Interview kritische Aussagen zum Internet. Etwas theoretisch klingt das; auf futura9 gab’s zu dem Thema jedoch kürzlich einen unterhaltsamen Artikel.
Hans Ulrich Obrist sprach im Dezember 2010 für die elektronische Zeitschrift e-flux mit diesem Hakim Bey, dem amerikanischen Künstler, Anarchisten und Aktivisten. Obrist sagt:
»Der Historiker Eric Hobsbawn spricht sich immer gegen das Vergessen aus, und kürzlich sagte mir Rem Koolhaas, Amnesie könnte das Herz der digitalen Revolution sein. Es scheint, dass es mit immer mehr Informationen immer weniger Gedächtnis gibt. Sind Sie damit einverstanden? Drängt es Sie, gegen das Vergessen zu protestieren?
Hakim Bey: Ich denke ja. Ich meine, ich habe vielleicht eine noch düsterere Vorstellung vom Cyberspace und vom Internet als Rem Koolhaas. Ich halte es für das schwarze Loch der Erinnerung [memory], und ich glaube, dass die Erinnerung in alarmierendem Maße verschwindet, nun, da jeder eine Erinnerungs-Prothese besitzt. Die Idee ist, dass wenn jemand eine Erinnerungs-Prothese hat, er sich an nichts mehr erinnern muss. Du drückst auf einen Knopf und hast jede Erinnerung, die du haben willst. Nun, zuerst musst du wissen, welche Frage du stellen willst. Wenn du nicht einmal weißt, was du wissen willst, wie kannst du es dann wissen? Das ist es, was ich mit schwarzem Loch meine – es saugt Wissen an. Es ist in Wirklichkeit schlimmer als Vergessen – es arbeitet gegen die Erinnerung.
Obrist: Es ist wie die Antimaterie der Erinnerung. Aber gab es eine Phase, in der Sie meinten, das Internet könnte Möglichkeiten oder neue Freiheiten schaffen? Dachten Sie schon immer, dass das Internet ein schwarzes Loch sei?
Hakim Bey: Ich muss zugeben, dass ich wie alle in den 1980-er Jahren da optimistischer war. (…) Ich glaube nun nicht, dass Technologie aus Gegnerschaft gegen das Soziale bestehen sollte. Und wenn Sie an das Symptom denken, über das alle sprechen, den Verlust von Privatheit oder die Neudefinition dessen, was Privatheit sein könnte, na ja, dann sehe ich das als einen tatsächlichen Angriff auf die Gesellschaft. Und interessant ist, dass es zu dem Zeitpunkt kam, als Thatcher sagte, so etwas wie die Gesellschaft gebe es nicht. Es ist eine ideologische Bewegung in Richtung des Sozialen.
»Und es geht auch nicht um die Glorifizierung des Individuums. Für mich ist das Individuum in diesem Spiel auch der Verlierer. Vor allem soll die Gesellschaft in individuelle Konsum-Entitäten aufgespalten werden, denn das ist es, was das Geld will. Das Kapital selbst will, dass jeder alles hat. Es will nicht, dass du dein Auto mit anderen teilst; du sollst dein eigenes haben. Und die USA haben es auch geschafft – bei uns hat jeder Erwachsene sein Auto. Das Kapital will, dass jeder alles hat und nichts mit anderen teilt. Und das soziale Resultat ist ein Horror. Es ist seltsam und beängstigend. Für mich ist es apokalyptisch.«