Shakespeare
Ich wollte mich in das Theaterstück The Winter’s Tale von Shakespeare vertiefen (von 1611) und las erst einmal die Einführung oder Introduction. Sie ist 40 Seiten lang, und dem Text des Stücks mit seinen vielen Fußnoten folgt dann noch ein Datenanhang von 60 Seiten. Der Apparat ist also fast drei Mal so lang wie das Stück.
Aber das wollte ich gar nicht hervorheben. Mir fiel eine Stelle in der Einführung auf, in der auf Shakespeares Fehler hingewiesen wird. Da heißt es so schön: »Man muss sich mit dem Text befassen und mit der Handlung auf der Bühne, und die Konventionen der Elisabethanischen Zeit müssen verstanden sein. Das Stück muss vom Zuschauer beurteilt werden, der es sich gestattet, sich von den Geschehnissen fesseln und von der Illusion bezaubern zu lassen.«
Dadurch verschwänden viele Probleme von selbst. Denn, so meinen die Herausgeber, es gäbe viele Verständnisprobleme. Paulina konnte nicht wissen, dass Leontes Polixenes vergiften wollte. Warum wird Leontes so schnell so rasend eifersüchtig? Warum erkannten der Schäfer und der Clown Autolycus nicht? (Das sind Fragen, die der Lektor gemeinhin auch dem Autor stellt: Warum ist das so und nicht anders? Sag es mir!) Die Antwort der Herausgeber: Die Zuschauer merken es nicht, weil alles auf der Bühne so schnell geht. Die Dinge sind auf der Bühne so, wie sie sind. Wenn das Publikum sie hinnimmt, ist alles in Ordnung.
Chambers schreibt in seinem Shakespeare-Buch, der große Autor sei oft nachlässig und oberflächlich gewesen, habe sich Unstimmigkeiten in der Zeit, der Handlung und der Charakteristik seiner Figuren erlaubt. Er sei sich wohl bewusst gewesen, dass Handlungsstränge, die man unterschlägt, oft nicht bemerkt werden. Wieder einmal der alte Spruch der Radioleute: »Das versendet sich.«Die Handlung treibt weiter, man hat keine Zeit, über die Logik nachzudenken. Der »Geist« einer Arbeit muss überzeugen; es muss einfach spannend sein.
Bei Gedrucktem ist es ähnlich. Wenn ein Buch fesselnd geschrieben ist, liest man weiter und immer weiter und auch über Unstimmigkeiten hinweg. Ist ein Fehler so dicke, dass man hängen bleibt, hat der Autor eben einen Fehler gemacht. Kleine Mängel treten ansonsten überall auf. Doch normalerweise sind es Stil und Stimmung, die die Leser begeistern und sie auch viel verzeihen lassen. Die Herausgeber verzeihen Shakespeare auch grammatische Mängel und unklare Konstruktionen; wichtig sei wiederum, wie die Schauspieler das sprächen. Der Gesamteindruck entscheide.
Ja, die Genies sind eben oft »g’schlampert«, und ein wenig tröstet einen das. Wir sind zwar keine Genies, aber es kommt nicht nur auf die absolute correctness an. Wer sich nur ums Detail kümmert, kriegt keinen großen Wurf hin. Wort eines Autors.