Stress (1)

Touristen und Neubürger aus anderen Ländern sagen, sie hörten in Deutschland sehr oft das Wort Stress. Ich selber hatte Gesprächspartner, die das meinten; an den Zusammenhang erinnere ich mich nicht. Vermutlich wollen sich die Leute hier wichtig machen; wer Stress hat, ist begehrt, und es ist ein kurzes, deutsch klingendes Wort, hart und scharf, das sich schnell sagt: Was für ein Stressssss!

Bei Anne Harrington (in ihrem Buch The Cure Within) habe ich die Geschichte dazu gefunden. Die Sache fing mit zwei Forschern an: mit dem US-Physiologen Walter B. Cannon und dem tschechischen Endokrinologen (Drüsenforscher) Hans Selye. Cannon sollte als Student herausfinden, wie Tiere im Darm ihre Nahrung verarbeiten. Dabei fiel ihm auf, dass aufgeregte Katzen Probleme bei der Verdauung hatten. Warum?  

Cannon setzte einen Hund vor den Katzenkäfig, und die Katze fühlte sich bedroht. Der Forscher verglich das Blut bedrohter mit dem Blut nicht bedrohter Katzen. Îm Blut der verängstigten Katzen fand er Adrenalin, das den Blutzucker und den Blutdruck erhöht. Cannon schloss, dies sei die Vorbereitung auf die Entscheidung fight or flight: kämpfen oder wegrennen –  im Tier seit Urzeiten angelegt und vielleicht auch im Menschen. 1936 sprach er vor Ärzten darüber. Das Leben sei schnell geworden, chronische Krankheiten drohten durch die strains and stresses des Lebens. Da war das Wort schon. (Illustration: Journalisten in den USA, 1942; Library of Congress, Washington D.C.)

Hans Selye aber machte das Wort bekannt. Er war in den 1930-er Jahren vor den Nazis geflohen. In Montreal wollte er ein neues weibliches Geschlechtshormon finden, holte sich im Schlachthaus Geschlechtsteile von Kühen und spritzte Extrakte daraus Ratten ein. Von einem Hormon keine Spur, dafür entwickelten die Ratten Magengeschwüre und größere Adrenalindrüsen. Dann war er richtig böse zu Ratten, schob sie bei Kälte aufs Dach des Gebäudes und in die Nähe der glühenden Heizung. Die Ratten bekamen Geschwüre und was dazugehörte.  

Irgendwann begriff Selye, dass Herzinfarkte, Bluthochdruck und Magengeschwüre beim Menschen durch Druck und Bedrohung entstehen, und in den 1950-er Jahren nannte er die Ursache Stress. Die Kollegen waren skeptisch, er jedoch ging in die Offensive und hielt Vorträge, schrieb Aufsätze, ging ins Radio. 1956 waren Selyes Gedanken in die Medizin eingedrungen, 1970 war das Gerede über Stress in den USA Routine geworden. Allein 1979 wurden dort 35 Millionen Dollar für die Stress-Forschung ausgegeben. Stress ist gefährlich, es war völlig klar. Die Forschungen wiesen alle in diese Richtung. Aber stimmt das auch? Morgen die Auflösung. (Bei der New York Times, 1942; Library of Congress, Washington D.C.)

 

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