Zufälliger Artikel
So steht das am Rand mancher Internetseite, auf einem Button: zufälliger Artikel. Zufälliges Gedicht. In der Flut des Angebots kommt der Zufall wieder zu seinem Recht. Wer nicht unbedingt etwas Spezielles lesen will, lässt die Maschine etwas für sich auswählen. Das hat seine Logik.
Manchmal bin ich auch verwirrt. Lyrikline ist eine Sammlung von 10.000 Gedichten unbekannter Autoren aus aller Welt, www.poesie.as bietet spanischsprachige Gedichte, und auch andere Seiten haben tausende Gedichte. Das Programm wählt eins aus und »spielt Schicksal«, wenn ich mich nicht entscheiden kann. Der Zufall im Leben, das ist auch für manipogo ein fast zu großes Thema.
Man wird irgendwo hineingeboren und kann es sich nicht aussuchen, man fällt Entscheidungen, meist die des geringeren Widerstands, man lernt einen Partner kennen, es funkt, man sagt: ›Das war Schicksal. Wie unglaublich, dass wir uns trafen!‹ Aber ein anderer Partner wäre möglich gewesen, am nächsten Tag um die nächste Ecke hätte es vielleicht wieder gefunkt, und wir müssen eben lieben und uns dabei erfahren, unsere Grenzen kennenlernen, und je schwieriger eine Beziehung ist, desto besser, könnte man sagen.
Ich fange etwas zu schreiben an. Ein »zufälliger« Einfall kommt, ich gebe ihm nach, warum nicht, irgendwo muss ich anfangen, es ist eigentlich egal, ich muss das Material, das mir zufliegt, gestalten, und ich tue das auf meine Weise, mit welchem Material auch immer. Ich will der Welt meinen Stempel aufdrücken und will mich verwirklichen, aber nicht alles ist möglich, und das ist gut so. Zu viele Möglichkeiten verwirren den Sinn. Ich muss bei dem bleiben, was ich vor der Nase habe.
Am Ende wird man vielleicht wie Jorge Luis Borges sagen: Ich habe das Gefühl, ich bin gelebt worden. Es geht vielleicht nicht anders. Vielleicht ist es für einen normalen Menschen eine zu schwere Aufgabe, hundertprozentig bewusst sein Leben zu gestalten und sich durch die Welt zu pflügen. Dazu ist alles zu komplex.
Was wäre nicht alles möglich gewesen? Frühere Generationen kannten diesen Gedanken nicht. Da war alles eng gebaut. Keine Visionen möglich. Das kann zur Hoffnungslosigkeit führen, ― aber auch die Unzahl der Möglichkeiten führt zu Hoffnungslosigkeit. Also lasst uns den Zufall hinnehmen und umarmen, ohne ihn gering zu achten oder ihn zu einem Schicksal hochzustilisieren. Etwas muss konkret werden, und heute; und das, was ist. Lasst uns eine Münze werfen und handeln.