Millie und Rufus

Zwischendurch lese ich Geistergeschichten für ein geplantes Buch. Die meisten sind sich immer weiter erzählt worden; wer weiß, wie es wirklich war? Aber manche sind zu hübsch wie die mit Millie und Rufus. Aufgeschrieben hat sie Bill Jessome, der im kanadischen Fernsehen neun Jahre lang durch eine Serie über Geister führte, Maritime Mysteries.

Erst am 9. Dezember vergangenen Jahres ist Jessome in Halifax gestorben, 88 Jahre alt. Nach einer Karriere als Schauspieler in den USA kam ihm erst im Pensionsalter der Einfall zu der Mysteries-Serie, und man muss sich wohl die Filme von einer rauchigen, langsam sprechenden Stimme begleitet denken. Später hat er einige Episoden zu einem Büchlein verarbeitet, das 1999 erschien. Millies letzte Fahrt heißt die haarsträubende Geschichte, die mit Wettermagie zu tun hat. Darum mag ich sie.

Jessome nimmt einen Drink und sieht in einer kleinen Präriestadt mitten auf der Straße einen Staubteufel (dust devil), also eine kleine Trombe, einen rotierenden Mini-Wirbelsturm. Seine Gedanken gehen zurück in die Gegend, wo er selber  aufgewachsen ist. Da gab es Millie, die im Alter von 85 Jahren an einem kalten Tag im Dezember 1912 starb. Sie war 12 Jahre zuvor Witwe geworden.  

Ihr ganzes Leben war Millie unzufrieden gewesen und hatte gejammert und geschimpft, und man meinte, es habe daran gelegen, dass sie mit einem jungen Mann verlobt war, der sie dann verließ. Er muss ihr viel bedeutet haben; Rufus hingegen, der Mann, den sie heiratete, weniger. Es war eine Zweckheirat. Aber auch Rufus hatte eine Liebe: Victoria, die 17-jährig in einem Feuer umgekommen war. Rufus wünschte sich nichts sehnlicher, als mit ihr im Jenseits vereint zu sein. Millie und Rufus waren unglücklich, und sie briet ihm manchmal eins mit der Bratpfanne über.  

Eines Abends im Jahr 1900 hatte Rufus zu viel getrunken und versprach seinen Freunden im Pub (mutig, wie Männer dort sind), er werde alles mit Millie regeln – aber von der anderen Welt aus, nicht in dieser. Sie werde bezahlen. Sie werde nicht neben ihm ruhen, ja, sie werde es nicht einmal in den Friedhof schaffen, prahlte er. Er stolperte hinaus, brach am Anstieg des Calvary Hill (Kalvarienberg) zusammen und sah wohl nur noch ein bläuliches Licht. Rufus war tot.  

Zwölf Jahre später trat also Millie diesen Weg an. Kurz vor ihrem Tod gab sie zu, vielleicht etwas zu streng mit Rufus umgegangen zu sein; er möge ihr vergeben. Man hatte ihr von Rufus’ Drohungen erzählt. Sie verschied, und draußen fing schon der schlimmste Schneesturm seit Menschengedenken an. Am Tag der Beerdigung war es eiskalt, und tief lag der Schnee. Der Beerdigungsunternehmer hatte zwei Pferde mit Schlitten gebracht, die sechs Sargträger waren alle schon über 70 Jahre alt und von Millie höchstpersönlich ausgewählt worden.  

Der Sarg lag auf dem Schlitten, das Pferd mühte sich den Calvary Hill (an dem Rufus gestorben war) hoch, drei der ihn stützenden Sargträger brachen vor Erschöpfung zusammen, und dann war man oben – als aus dem vorbereiteten Grab ein Rumpeln drang. Etwas wie ein Zyklon kam hervor und drehte sich wirbelnd wie ein Staubteufel. Der Priester ging in die Knie.  

Es war eine Trombe aus Schnee. Sie streifte das Pferd, und der Sarg glitt zu Boden und blitzschnell auf der anderen Seite den Berg hinunter. Der Beerdigungsunternehmer und drei andere Männer rannten ihm nach, aber vergeblich. Der Sarg mit Millies Überresten zischte den Berg hinab. Später wurde rekonstruiert, dass er an der Böschung mit den Gleisen zerschellt und Millies Körper vermutlich auf einen Zug hochgeschleudert worden war – auf einen Waggon, der wie viele andere Kohlen für ein Schiff in Cape Breton brachte. Am Hafen wurden die Kohlen ausgeladen, dann hinein in den Kessel, und Millies Körper erlebte seine ungeplante Kremation.   

Der Erzbischof fragte später den Priester, war er sich denke? Dieser sagte, er habe am Friedhof den Geist des jungen Rufus und ein junges Mädchen gesehen. (Alle wissen, dass Geister im Jenseits so wirken, als seien sie zwischen 20 und 30 Jahre alt.) Wer das Mädchen gewesen sei? „Victoria!“

 

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