Dorf gegen Dorf
Noch eine kleine Geschichte aus dem großen Band über Medizin aller Völker, aus dem die Reinlichkeit von gestern stammt. Hängen blieb ich noch bei einem Artikel von Leonard B. Glick über das Medizinsystem der Gimi im östlichen Hochland von Neuguinea. Hat mich an Bayern erinnert, wie es früher war.
Glick schreibt in den 1970-er Jahren, dass im Hochland von Neuguinea die Beziehungen der Dörfer untereinander alles war, was man an Politik hatte. Entweder leben im Nachbardorf Verwandte oder eben – Feinde. Die Feinde konnten morgen aber Freunde sein. Alle Bewohner waren stolz auf ihr Dorf und »bereit, über die Leute im Nachbardorf alles zu glauben«. Etwa 1960 nahm Australien die Verwaltung in die Hand. Die Australier taten das immer effektiv und streng. Morgen werden wir hören, dass sie den Ureinwohnern, den Aborigines, Tausende Kinder wegnahmen und sie in Heime steckten.
Vor 1960, vor den Australiern jedoch »waren Kämpfe der Dörfer untereinander an der Tagesordnung, und man scheint sie richtig genossen zu haben«. Der Autor schreibt, früher habe ein junger Mann seine Kraft beweisen können, indem er mitmachte, wenn ein Dorf das andere überfiel. Nun (1977) herrsche nach außen hin Friede, doch die Einstellung der Gimi habe sich nicht geändert: Die nicht mit ihnen verwandten Einwohner anderer Dörfer dürfe man ruhig manipulieren und betrügen, und man greift sie an, wenn das eigene Dorf in Gefahr ist. (Illustration: Rolf Hannes)
Da fiel mir ein, wie mir mein Vater erzählte, ein Verwandter habe ihn einmal ins Wirtshaus mitgenommen, und da sei eine Schlägerei ausgebrochen; der Verwandte haben ihn, den kleinen Jungen, auf einen Schrank gesetzt, habe einen Masskrug ergriffen und zugeschlagen. Die Tradition, das Nachbardorf im Schutze der Dunkelheit zu betreten und den Maibaum zu stehlen (das machen die jungen Leute), der später mit Geld und Bier ausgelöst werden muss, geht auf frühere Dorffehden zurück. Oft ging es um ein Mädchen, bei einer Kirchweih konnte es zur Schlacht kommen, und da standen die Jungen eines Dorfs gegen die des anderen — wie in dem französischen Kino-Kinderfilm Der Krieg der Knöpfe von Yves Robert (1962).
Aus einem anderen Beitrag, noch krasser: Reo F. Fortuna war in Dobu auf Papua-Neuguinea (vielleicht nicht weit von den Gimi entfernt) und schreibt so bildkräftig: »Unter der Oberfläche des einfachen Lebens herrscht ein dauernder stiller Krieg, und nur in einem kleinen Kreis von Anverwandten wird einander vertraut. Das ganze Leben des Volkes ist durch eine Abwesenheit von Vertrauen zum Nachbarn und verräterischem Verhalten hinter einer Fassade aus Freundlichkeit geprägt.«
Die Dorffehden steckten auch, so Glick, hinter der Gimi-Volksmedizin. Die in Afrika immer noch herrschende Angst vor Besessenheit durch Dämonen, die Erklärung, jemand sei verhext worden, der Wille, jemanden zu verhexen … all das liegt daran, weil man dem anderen nicht traut. Vergessen wir nicht, dass in Süditalien bis in unsere Tage die Angst vor dem bösen Blick grassiert, dass man sofort ein Amulett berührt, wenn jemand einen zu sehr lobt (das beschwört Unglück herauf), und aus dem ländlichen Gegenden in Deutschland war das früher auch so.
Wir sind heute zivilisiert und autonom. Jeder hat seinen Fernseher und sein Auto, seinen Job und sein Umfeld. Aber ursprünglich, auf dem Dorf, hatte man Angst vor dem anderen und war davon abhängig, im Dorf akzeptiert zu sein. Und wie man den Nachbarn fürchtete (und hasste oder verachtete), so fürchtete das Dorf das Nachbardorf und das Land das Nachbarland; darum gibt es auch so viele despektierliche Witze, die die Spanier über die Portugiesen, die Deutschen über die Österreicher, die Franzosen über die Belgier machen (und umgekehrt). Liebe deinen Nächsten: sehr schwer.