Medizinische Nemesis
Die Nemesis ist die griechische Göttin des gerechten Zorns, die Rachegöttin. Über die Nemesis der modernen Medizin (so deutsch 1981) schrieb Ivan Illich (1926-2002), und meine Exzerpte daraus habe ich wieder durchgelesen. Brillant und visionär. Das Original hieß The Limits of Medicine.
Schon das Leben von Ivan Illich wäre einen Beitrag wert. 1920 in Wien geboren, 1951 zum katholischen Priester geweiht, wegen seines Einsatzes für die südamerikanische Befreiungstheologie Konflikt mit der Kurie, Priesteramt zurückgegeben, dann viele kosumkritische und »aufrührerische« Bücher geschrieben. Darunter war auch eine Eloge für das Fahrrad mit dem Vorschlag, Autofahrern nur Tempo 40 zu gestatten. Bravo! Illich lehrte auch als Professor an der Universität Bremen.
Illichs These ist, dass die moderne Medizin das sei, vor dem sie uns schützen möchte: eine Gesundheitsgefahr. Sie sei eine der schlimmsten Epidemien der Nachkriegszeit und wetteifere mit den Zahlen von Autounfällen und Kriegen. Erst im vergangenen Jahr hieß es, in Deutschland stürben 19.000 Menschen jährlich durch Behandlungsfehler oder Infektionen in Krankenhäusern, und in den USA rangiert der Tod durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen auf Platz sechs oder sieben der häufigsten Todesarten.
Das sei die medizinische Nemesis: die Rache der Natur, die Strafe für die Hybris des Menschen, mit Technik Krankheit niederkämpfen zu wollen. Zwischen 1950 und 1970 seien die Ausgaben für die Gesundheitsversicherung weltweit um 10 Prozent gestiegen. 1962 machte das Gesundheitswesen 4,5 Prozent des Bruttosozialprodukts in den USA aus, 1975 waren es 8,4 Prozent. Wieviel heute? Das Gesundheitswesen ist in Deutschland der größte Wirtschaftszweig, mit dem 2009 fast 280 Milliarden Euro umgesetzt wurden.
Geld korrumpiere das Gesundheitswesen, meint Illich. Man nähere sich einer Gesellschaft der lebenslangen Versorgung, in der der Bürger ein potenzieller Kranker sei. »In einer triumphierend therapeutischen Gesellschaft kann sich jeder zum Therapeuten machen und einen anderen zum Patienten deklarieren. Die Medizinalisierung der Industriegesellschaft bringt ihren imperialistischen Charakter zum Tragen.« Das sieht man heute: Überall wird therapiert.
Der Tod, der lange Zeit, zum Leben gehörte, wird exorziert. Er ist der Feind. Die Haltung zum Tod verrät auch etwas über die Haltung zum Leben. Der Hausarzt wird zum Pförtner degradiert – er lässt die Patienten ins System ein – und gezwungen, Doppelagent zu sein: zuständig für den Kranken, aber auch für die eigene Bilanz und die des Gesundheitssystems. Illich: »Gesunde Menschen brauchen nur die geringste bürokratische Mithilfe, um sich zu paaren, zu gebären, das Leben zu führen und zu sterben.«