In The Country
Nach Pfullendorf vergingen 14 Tage, bis ich mit meiner Mutter im Auto zurück ins Badische fuhr, wo sie nunmehr eine neue Wohnung bezogen hat. Das hieß: keine Bleibe in Landsberg mehr. Am letzten Abend trat im Stadttheater die norwegische Jazzband In The Country auf, und das sollte für mich der rituelle Abschied sein.
Ich saß oben auf der Empore und blickte hinunter auf die Bühne. Hinter den Musikern sah man auf einer großen Leinwand Schneegestöber oder eine norwegische Landschaft aus dem Zug, in Schwarz-Weiß, oder Wolken. Dazu spielten In the Country den Soundtrack. Meine Fotos sind nicht schlecht, mit langer Belichtungszeit aufgenommen, nur der Bassist ist immer unscharf, weil er sich bewegte.
Der Ansager meinte, ihre Musik sei mehr als Jazz oder kein Jazz, aber was ist schon Jazz? Man verwendet eben Kategorien, um eine Orientierung zu haben, und alle wollen heute etwas Besonderes sein und mehr oder anders; wir wissen es. Man braucht aber nicht darum herumzureden: Es war wunderbar sparsame, klar akzentuierte Musik, um dabei die eigenen Gedanken fließen zu lassen. Sagen wir es so: Es war etwas wie langsamer Esbjörn-Svensson-Jazz, mochte an Keith Jarretts Köln Concert erinnern oder, wenn sie antrieben, auch an den Titel Starless von King Crimson (wie beim 10minütigen Titelsong der 2013-CD Sunset Sunrise).
Es war natürlich einmalig, und ich dachte mir wieder einmal: Lass das Vergleichen sein. Mir fiel ein, wie alles anfing: Wie mein Vater Anfang der 1950er Jahre in Landsberg, in der Oberstadt zwei Kilometer vom Stadttheater entfernt, zur Untermiete in der Familie meiner Mutter lebte, deren Ziegen hütete und mit einer Taschenlampe ihr Lichtsignale hochschickte in ihr Zimmer. Er war im Lagerhaus Schweyer tätig als Buchhalter, und später tat er, was eine englische Freundin, schon verstorben, erlebte: He ran away with the landlady’s daughter.
Mein Vater Manfred genoss bei den Eltern meiner Mutter Frieda wenig Ansehen, und sie war auch nicht die Wunschkandidatin der Eltern meines Vaters, den sie gern mit einer Brauereitochter verkuppelt hätten. Doch die beiden Jungen waren sich einig, heirateten in Landsberg im November 1954 und entschwanden in die Großstadt. Später, als mein Vater bei einem Finanzier arbeitete, kam er mit einem weißen Cadillac zurück, und mein Großvater zog vor ihm den Hut. Was für Geschichten!
Später traf ich noch die Musiker, fragte auf Norwegisch, ob ich sie fotografieren könne (»kan jeg gjøre en foto?«) und erstand die CD Sunset Sunrise. Es war ein grauer, kalter Tag, an dem richtig Katzenjammer aufkommen konnte, doch am nächsten Tag, auf der Autofahrt zurück, zeigte sich auf der Baar blauer Himmel und die Sonne, bevor es ins Höllental hinunter ging, in die kochende Nebelwelt, die Trockeneiswelt, und dazu hätte die Musik von In The Country gehört (aber mein Volvo hört nur Kassetten).
In the Country. Von links nach rechts Roger Arntzen (Bass), Morten Qvenild (Piano) und Pal Hausken (Schlagzeug)