Das Fluchtzeug

Herzflattern ist eine Geschichte von André Kaminski (1923-1991), und das 30 Jahre alte Suhrkamp-Taschenbuch mit Erzählungen des Autors nahm ich nur mit, weil ein Fahrrad mit Flügeln auf dem Titelbild zu sehen ist, ein Fahrradengel sozusagen. In Herzflattern spielt ein Fahrrad eine Rolle und eine Frau, Ines, aber das Rad ist wichtiger, ganz klar. 

Der Erzähler von Herzflattern ist anscheinend Professor in Zürich und auf dem Sprung in eine neue Stadt. Womöglich St. Petersburg oder Moskau. Irgendwie erfährt man, dass der Professor ein Linker ist und eine neue »Herausforderung sucht«, wie das heute so schön heißt. Es tut ihm aber leid, er ist noch nicht entschlossen, er ist wankelmütig. Die Stadt an der Limmat (und der Sihl) ist ihm ans Herz gewachsen; kürzlich las ich ein Loblied auf Zürich von dem Architekten Santiago Calatrava, der in New York und Zürich lebt. 

Die Wohnung war schon fast leer. »Nur mein Fahrrad hatte ich behalten. Ein englisches Wunder Marke Raleigh, von dem ich mich auf keinen Fall trennen wollte. Es spielte eine fast magische Rolle in meinem Leben. Es war mein fliegender Teppich, mit dem ich davonfliegen konnte, wenn es irgendwo heiß wurde.«

So könnte es ausgesehen haben, Kaminskis Raleigh.

(Raleigh aus Nottingham ist ein ganz alter Fahrradhersteller, 1887 gegründet. Mein erstes Rennrad von 1990 war/ist ein Raleigh. Auf dem Suhrkamp-Umschlag ist die Zeichnung eines Rads mit Flügeln, aber es sieht aus wie ein Mountainbike und nicht wie ein Raleigh aus den 1970er Jahren.)

Da liegt aber noch eine Schallplatte, Schubert, Opus 161, die ihm eine gewisse Ines geliehen hatte, und der unentschlossene potenzielle Emigrant hofft sehnlichst, sie, Ines, möchte ihn umstimmen, möchte ihn überreden, hierzubleiben. 

Erst aber trifft ein Telegramm der Mutter ein: »Fahrrad verkaufen stop sowjetische sind besser.« »Aber meine Mutter verlangte zuviel von mir. Mein Fahrrad sollte ich verkaufen. Meine verchromte Freiheit. Mein Fluchtzeug, mit dem ich jederzeit das Weite suchen konnte. … Auch ich brauche Räder, um bereit zu sein. Diesen Besitz konnte und wollte ich nicht aufgeben. Ich war zwar ein Feind alles Eigentums. Ich behauptete sogar, Eigentum sei Diebstahl, aber das Fahrrad musste ich behalten. Soviel war mir auch der Kommunismus nicht wert. Ich bin mehr Jude als Held, und ein Jude ist fluchtbereit. Seit zweitausend Jahren.«

Die letzte Vorlesung, die letzte Nacht, dann auf zu Ines, die letzte Chance! Wahnsinn: Sie stürzen ineinander, umarmen sich, lieben sich leidenschaftlich, … aber Ines bleibt stumm. Er muss also reisen. Mit dem Zug. »Als Reisegepäck waren zwei Koffer dabei und das Fahrrad, mein geliebtes Fluchtfahrzeug für alle Fälle.“

 

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