Der Kontext

Geschichte interessiert nicht mehr, gelesen wird nicht mehr viel in Büchern, man fährt mit Hilfe des Navis, bestellt seine Produkte via Internet und schreibt seinen Freunden mit dem Smartphone. Dies alles ist Ausdruck für den Verlust des Zusammenhangs; der Kontext hat sich verflüchtigt. Was bedeutet das?

Wir leben punktuell, prekär, präsentisch. Wir isolieren uns. Wer die Geschichte kennt, weiß, woher er kommt und wo er steht; eine Identität gibt ein gutes Gefühl. Ein Gebäude in Barcelona ohne seine Geschichte sagt mir nichts, bleibt stumm, ist bloß schön (oder kurios, weil von Gaudí). Bücher werden kaum gelesen. Gerade in Büchern breitet sich der Zusammenhang einer Szene aus, wodurch soziales Lernen möglich wird, weil der kommunikative Austausch eingebettet ist in das Romanleben.

Was wir hier und da lesen, hat nur den gröbsten Zusammenhang und führt nicht zu Lernerfahrungen; nur, was sich in einem Kontext anbietet, sich an Anderes anlagern kann, bleibt hängen.

Wir lassen uns von der Navi-Stimme leiten und wissen gar nicht genau, wo wir da fahren, der ganze landschaftliche Kontext ist ausgeblendet. Oder ich sehe meinen Standort auf dem Smartphone, aber nichts außenrum. Ich bestelle mein Produkt im Internet ohne Vermittlung einer Verkäuferin, ohne den Besuch im Laden: Das pure Produkt trifft ein. Und ich schreibe mich mit Freunden. Das Medium Smartphone hat sich den Kontext einverleibt, enthält ihn uns vor.

So verlieren wir den Bezug zur Natur, zum Nächsten, zur Sprache und zu uns selbst. Wir sind isoliert – dabei weiß man doch, dass alles mit allem verbunden ist und dennoch alles individuell und unvergleichlich ist, doch unsere roh verwendete Sprache gibt das nicht wieder. Der Verlust des Kontextes führt zu irrigen Urteilen und zu Vereinsamung, zudem zu schleichender Verdummung.

Die Geräte fressen den Kontext auf. Geld rein, Karte raus. Ich glaube, wir wissen nicht, in welche Abgründe die zunehmende Technisierung, der Faktenwahn und die Fixierung auf ein hohles Jetzt, eine Art Consumer-now, führen könnte. Die Leute, die sich mit Technikfolgenabschätzung beschäftigen, rechnen immer nur, wieviele Arbeitsplätze verlorengehen oder geschaffen werden.

Philosophie hat es heute auch schwer. Zu tiefsinnig, kostet zuviel Zeit (lesen und sie betreiben). Die Tragweite ist nicht klar, die es hat, wenn die Fundamente einer Zivilisation untergraben werden. Wohin diese Zivilisation driftet, ist auch nicht klar. Sie weiß ja nicht richtig, was sie will – immer schneller, immer bequemer soll es laufen, aber wozu? Wollen wir nicht ein »gutes Leben«? Wie das aussehen könnte – ein möglichst gutes Leben für möglichst viele ―, darüber sollten wir nachdenken. Tut aber keiner. Man will bloß leben und gesund sein, der Gesundheitswahn hat mit der Furcht vor dem Tod zu tun und mit der vor dem Nichts.

Noch ein schönes Zitat gefunden. Es ist von dem großen Reisenden und storyteller Doug Boyd (1935-2006), aus seinem Buch Mystics, Magicians, and Medicine People:

Wir können die Frage ›Was um alles in der Welt ist der Mensch?‹ ernsthaft nur im Kontext der Frage ›Was um alles in der Welt ist die Welt?‹ erörtern. Außerhalb des Kontexts können wir uns nicht kennen. Niemand sagt: Lern dich nur allein durch dich selbst kennen. Wir können wirklich überhaupt nichts begreifen, wenn wir es aus dem kosmischen Zusammenhang losgelöst betrachten, zu dem es gehört. Wir können weder den Plan für die Erde noch das Leben wirklich verstehen, so lange Wissenschaft und Mystizismus noch nebeneinander her existieren und sich gegenseitig ignorieren. Wir brauchen einen praktischen Mystizismus – eine gute Balance zwischen intuitiver Einsicht und praktischer Anstrengung.

 

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