Bleibt nichts
Die Märchen der Brüder Grimm können ziemlich grausam sein, das weiß man, aber eins, son finde ich, stellt alle in den Schatten: Von dem Tode des Hühnchens. Da ist man platt, so pessimistisch und radikal negativ ist es ― so sehr, dass es fast parodistisch wirkt. Schauen wir’s uns an.
Die Brüder haben ihre Märchen ja im Volk gesammelt, von irgendwoher ist es überliefert. Das Leben der einfachen Leute war immer schwer, und man muss nur die Volkslieder anschauen, wie traurig die oft sind. Kinder starben oft im Kindbett, die Mutter manchmal auch, Soldaten überfielen die Dörfer und machten alles nieder; der Graf schickte Bewaffnete, die pressten Geld heraus und folterten, und der Pfarrer sagte, das ist der Lauf der Welt und Gottes Wille.
Ludwig Bechstein hatte das Märchen bereits 1808 veröffentlicht, die Grimms taten es 1812 und schrieben »aus Hessen« dazu. Damals ergötzte man sich an Erschröcklichem: Johann Peter Hebel und Hermann von Kleist schrieben damals Geschichten, die angelehnt waren an reale Katastrophen und Unglücke. Es geht um den totalen Untergang, die Apokalypse, die erst im Jahrhundert darauf in Deutschland sich vollziehen sollte.
Vom Tode des Hühnchens
Auf eine Zeit ging das Hühnchen mit dem Hähnchen in den Nussberg, und sie machten miteinander aus, wer einen Nusskern fände, sollte ihn mit dem andern teilen. Nun fand das Hühnchen eine große, große Nuss, sagte aber nichts davon und wollte den Kern allein essen. Der Kern war aber so dick, dass es ihn nicht hinunterschlucken konnte und er ihm im Hals steckenblieb, dass ihm angst wurde, es müsste ersticken. Da schrie das Hühnchen: »Hähnchen, ich bitte dich, lauf, was du kannsst, und hol mir Wasser, sonst erstick‘ ich.«
Märchen sind didaktisch. Da ist schon die Strafe für das nicht eingehaltene Versprechen. Wird dem Hühnchen verziehen?
Das Hähnchen lief, was es konnte, zum Brunnen und sprach: »Born, du sollst mir Wasser geben; das Hühnchen liegt auf dem Hutzberg, hat einen großen Nusskern geschluckt und will ersticken.« Der Brunnen antwortete: »Lauf erst hin zur Braut und lass dir rote Seide geben.« Das Hähnchen lief zur Braut: »Braut, du sollst mir rote Seide geben; rote Seide will ich dem Brunnen geben, der Brunnen soll mir Wasser geben, das Wassser will ich dem Hühnchen bringen, das liegt auf dem Nussberg, hat einen großen Nusskern geschluckt und will daran ersticken.«
Die Braut antwortete: »Lauf erst und hol mir mein Kränzlein, das blieb an einer Weide hängen.« Da lief das Hähnchen zur Weide und zog das Krämzlein aus dem Ast und brachte es der Braut, und die Braut gab ihm rote Seide dafür, die brachte es zdem Brunnen, der gab ihm Wasser dafür. Da brachte das Hähnchen das Wasser zum Hühnchen, wie es aber hinkam, war dieweil das Hühnchen erstickt und lag da tot und regte sich nicht.
Bitter. Was will der Brunnen mit der roten Seide? Die Beziehung zwischen Born und Braut wird durch Hähnchen legalisiert, erfordert aber ein Opfer: Hühnchen. Alles hat sich gegen ihren Partner verschworen, das Rennen gegen die Zeit verliert er. Doch das ist nur der Beginn einer teuflischen Spirale.
Da war das Hähnchen so traurig, dass es laut schrie, und kamen alle Tiere und beklagten das Hühnchen; und sechs Mäuse bauen einen kleinen Wagen, das Hühnchen darin zum Grabe zu fahren; und als der Wagen fertig war, spannten sie sich davor, und das Hähnchen fuhr. Auf dem Wege aber kam der Fuchs: »Wo willst du hin, Hähnchen?« ― »Ich will mein Hühnchen begraben.« ― »Darf ich mitfahren?«
»Ja, aber setz dich hinten auf den Wagen,
vorn können’s meine Pferdchen nicht vertragen.«
Da setzte sich der Fuchs hinten auf, dann der Wolf, der Bär, der Hirsch, der Löwe und alle Tiere in dem Wald. So ging die Fahrt fort, da kamen sie an einen Bach. »Wie sollen wir nun hinüber?« sagte das Hühnchen. Da lag ein Strohhalm am Bach, der sagte: »Ich will mich quer drüber legen, so könnt ihr über mich fahren.«
Das ist idiotisch. Über den Strohhalm fahren? Ein Fehler jagt den anderen. Wie die Lemminge folgen die Tiere des Waldes ihrem Lenker in den Untergang.
Wie aber die sechs Mäuse auf die Brücke kamen, rutschte der Strohhalm und fiel ins Wasser, und die sechs Mäuse fielen alle hinein und ertranken. Da ging die Not von neuem an, und kam eine Kohle und sagte: »Ich bin groß genug, ich will mich darüber legen, und ihr sollt über mich fahren.« Die Kohle legte sich auch an das Wasser, aber sie berührte es unglücklicherweise ein wenig, da zischte sie, verlöschte und war tot. Wie das ein Stein sah, erbarmte er sich und wollte dem Hähnchen helfen und legte sich über das Wasser.
In vielen Märchen ist die Zahl Drei wichtig. Alles passiert immer drei Mal, in Abwandlungen, und das macht sie auch so ermüdend.
Da zog nun das Hähnchen den Wagen selber, wie es ihn aber halb drüben hatte und war mit dem toten Hühnchen auf dem Land und wollte die anderen, die hinten aufsaßen, auch heranziehen, da waren ihrer zuviel geworden, und der Wagen fiel zurück, und alles fiel miteinander in das Wasser und ertrank. Da war das Hähnchen noch allein mit dem toten Hühnchen und grob ihm ein Grab und legte es hinein und machte einen Hügel darüber, auf den setzte es sich und grämte sich so lang, bis es auch starb; und da war alles tot.
Sowas: All Dead, all dead, and alone I’m spared. Hören wir uns noch einen Song von den Queen an, at the rainbow’s end, aber hinter dem Regenbogen geht’s weiter, und hier ohnehin. Das Abgetane muss zurückbleiben, wir leben in der Gegenwart.