Vom Verschwinden der DDR (7): Die Montagsdemonstrationen

Montagsgebete um den Weltfrieden gab es in der Leipziger Nikolaikirche schon seit 1982. Die erste Montagsdemonstration wurde am 4. September 1989 abgehalten, und Transparente mit Freiheit! und Wir wollen raus waren zu sehen. Doch erst am 9. Oktober lernte die Staatsmacht das Zittern: massenhafte Beteiligung an der Leipziger Demonstration, und die 25.000 verteilten Flugblätter begannen mit den Worten Wir sind ein Volk!   

Am 8. August 1989 war die Ständige Vertretung der DDR in Ost-Berlin geschlossen worden, nachdem die Lage außer Kontrolle war: zu viele Ausreisewillige in den Räumen und Fluren und im Garten. Dasselbe geschah bald in Warschau und in Prag, wo die DDR-Vertretung am 22. August wegen Überfüllung geschlossen werden musste. 4000 Menschen harrten dort aus, die Lage war bedrohlich, und Erich Honecker gestattet schließlich die Ausreise der Eingepferchten. »Genschman« teilte ihnen die Nachricht am 30. September persönlich mit, vom Balkon aus. Am 2. Oktober fuhren Züge mit 4000 DDR-Bürgern aus der Prager und 800 aus der Warschauer Botschaft der DDR in Richtung Bundesrepublik Deutschland. Das war die Lage vor den ersten wirklich bedeutenden Bürgerdemonstrationen im Osten.

Am 4. Oktober wurden vier Züge aus Prag durch Dresden gelotst und kamen auf dem Hauptbahnhof an. 5000 Menschen wollten in die Züge, die Polizei griff ein und nahm 1300 Personen fest. Am 7. Oktober war der Nationalfeiertag der Deutschen Demokratischen Republik. In Plauen in Sachsen versammelten sich an die 20.000 Menschen und zogen durch die Stadt. Es war — schreibt Wikipedia — die erste Demonstration, die nicht von der Staatsmacht aufgelöst werden konnte.

Und dann, am Montag 9. Oktober, die erste wirkungsvolle Massendemonstration. Gewandhauskapellmeister Kurt Masur verlas am Abend den Aufruf der Sechs (Künstler):

Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.

70.000 Teilnehmer marschierten sogar an der Leipziger Stasi-Zentrale vorüber. Insgesamt sollen 130.000 Menschen teilgenommen haben, zwei Wochen darauf schon 300.000 und am 6. November, drei Tage vor der Grenzöffnung, sogar 500.000. Diese Zahlen nennt Wikipedia. Immer schwierig, solche Schätzungen; aber die eingetretene Dynamik teilen die Zahlen mit. Der Unmut war riesengroß geworden und nicht mehr zu stoppen. Alle befanden sich wie im Fieber.

Angeblich soll die Weigerung von 1200 Unteroffiziers-Schülern, gegen ihre Landsleute vorzugehen, eine Rolle bei der Entscheidung gespielt haben, die Demonstration vom 9. Oktober nicht anzugreifen. Bei Unrechtsregimes operieren ja Leute gegen ihre eigenen Mitbürger, der Staat geht gegen das Volk vor; es handelt sich um einen geheimen Bürgerkrieg.

Frankreich und Italien hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg immer schwergetan damit, dass es Kollaborateure mit den Nazis gab, dass nicht das gesamte Volk im Widerstand war. Und nach der Absetzung der Diktaturen kam immer das Problem auf: Was tun mit den Folterern, Mördern, Unterdrückern? Es waren ja viele: In der DDR arbeiteten 90.000 Menschen für das Ministerium für Staatssicherheit (die Stasi), und 190.000 weitere waren Informelle Mitarbeiter oder Informanten, und damit waren 5 Prozent der Bevölkerung damit beschäftigt, die restlichen 95 Prozent auszuspähen. Unter 100 Menschen 5 Schurken; nicht wenig.

Um einen Neuanfang zu schaffen, wurden nach Diktaturen (in Chile, Argentinien, Spanien) meist Amnestien verkündet — ein Schlag ins Gesicht all derer, die verschwundene oder tote Angehörige und Freunde zu beklagen hatten. Versöhnung wird dann zu einem schmerzhaften, jahrzehntelangen Prozess.

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