Das Wunder – widerrufen

Frederick Forsyth, der englische Meister des Thrillers, veröffentlichte einmal unter dem Titel Der Veteran vier Erzählungen. Die erste zog mein Interesse auf sich. Sie heißt Das Wunder, und da spaziert in Siena ein Mädchen in einem Lazarett während des Zweiten Weltkriegs herum, widmet sich den Verwundeten und verschwindet wieder.

_DSC1596Die Geschichte hat einen Legendenton. Ein amerikanisches Touristen-Ehepaar will zum Palio, dem berühmten Pferderennen der toskanischen Stadt, doch die Frau verstaucht sich den Fuß. Ein Einheimischer verbindet sie und erzählt eine Geschichte, die so fesselnd klingt, dass der Mann (und auch der Leser/die Leserin) sie ganz hören will. Wir schreiben das Jahr 1975. Der Helfer, ein Mann Mitte 50 mit deutschem Akzent, erzählt, wie ein 24-jähriger deutscher Arzt in der Schlacht um Siena in einem zum Verbandsplatz umfunktionierten Innenhof operierend um das Leben von Soldaten kämpft. Bald muss der Erzähler zugeben, dass er der junge Arzt war damals, 1944.

Die junge Frau taucht auf, während der junge Arzt übermüdet und blutbespritzt operiert, und geht friedlich durch die Reihen, gekleidet in eine graue Kutte. Dann ist sie wieder weg. 220 Soldaten liegen da stöhnend; auch hoffnungslose Fälle. Doch keiner stirbt. Die Deutschen, Franzosen und Amerikaner schießen aufeinander und sprengen sich weg, die Stadt scheint untergehen zu müssen, die Hölle bricht los, doch wundersamerweise verhandeln die Gegner, die Front entzerrt sich, die Deutschen flüchten, die Franzosen lassen den deutschen Arzt in Ruhe, der schreckliche Wunden sieht, an denen aber niemand stirbt, solange das Mädchen dahinwandelt wie eine Schlafwandlerin.

_DSC1606Der Arzt kehrt nach Hamburg zurück, heiratet, wird 15 Jahre später geschieden und kommt nach Siena zurück, um das Mädchen zu suchen. Erst ein Frater weiß Näheres. Als er ein gemaltes Bild des Mädchens sieht, erbleicht er und berichtet, es gleiche der Caterina von Siena, die 1520 asl reiches Kind zur Welt kam, ihr Leben den Armen widmete und 1550 während der Pest, als Urheberin verteufelt, vergewaltigt und ermordet wurde. Seither kehrt der Deutsche jeden Sommer nach Siena zurück und tut Gutes. Auch der Amerikaner ist gerührt und spendet viel Geld.

Soweit, so gut. Es gab eine heilige Katharina von Siena, die lebte aber von 1347 bis 1380 und starb an einer Krankheit. Forsyth hat also eine andere Caterina erfunden, die 400 Jahre nach ihrem Leben Wunder wirkt. Kein Soldat starb während jener Tage! Die 40 Seiten lange Geschichte rührt uns. Kein christlicher Autor hätte sie besser erzählen können.

Nur — dann reißt der Autor uns aus unseren Träumen. In den letzten fünf Zeilen erklärt er die ganze Erzählung zu einer Erfindung. Wir stürzen ins Leere. Wir sind völlig ratlos. Jemand beschenkt uns mit einem Juwel, und dann nimmt er es uns weg oder sagt: Es ist unecht.

_DSC1640Keine Frage, dass ich die Geschichte sofort glauben würde. Die Frage ist: Warum tut ein großer Autor so etwas, warum tut er uns so etwas an? Warum ist er so herzlos? Natürlich ist die Erzählung nicht ein typischer Forsyth. Hier schwelgt er in Sprache und lässt sich gehen. Hat er sich am Ende geschämt, sich so gehen haben zu lassen? Oder fühlte er sich gedrängt, den Rationalismus siegen zu lassen über das Wunder, das nicht sein darf, wie wir manchmal hören? Hätte er es nicht getan, man hätte sich vielleicht gefragt: Was ist denn mit Forsyth los? Ist er auf seine alten Tage (erschienen ist das 2001, da war er 63 wie ich heute) gläubig geworden?

_DSC1622Vielleicht auch hat er darauf vertraut, dass die Botschaft schon ankommen würde, dass die letzten fünf Zeilen so gelesen werden würden, wie sie dastehen: aufgesetzt, angeklebt, hingerotzt. Die 40 Seiten davor werden dadurch verdreht und befleckt. Aber sie sind nicht zu tilgen. Dass der angebliche Deutsche die Geschichte erfand, um dem Amerikaner Geld aus der Tasche zu locken, bedeutet nichts. Sie hätte passieren können, die Geschichte, deshalb hat sie Frederick Forsyth auch aufgeschrieben. Jeder Autor könnte am Schluss eines Romans schreiben: Leute, das alles habe ich erfunden. Wer bis dorthin gelesen hat, müsste antworten: Ach was! Ist doch ein Roman, das haben wir gewusst. Trotzdem haben wir es genossen. Du musst uns das nicht unter die Nase reiben.

Manchmal lassen wir uns von Zwängen leiten. Die Titelgeschichte Der Veteran liest man atemlos, ich wollte sie nicht lesen und kam nicht mehr davon los, das ist die Magie Forsyths, und auch da beleuchtet die letzte, die 91. Seite der Erzählung, das bisher Geschilderte neu und grell, und die letzten sieben Zeilen sind wie ein Stempel darauf. Statt dem Cliffhanger stürzt uns der Autor einfach die Klippe hinab, so macht er das halt, und noch im Fliegen verstehen wir alles neu und schwingen uns wieder empor.

 

Bilder: aus Siena, fotografiert von mir bei einem Aufenthalt 2013. Oben der Platz des Palio, dann Blick auf die Stadt, ein Detail des Doms und ein Ritter in der Innenstadt — als Illustration des Fiktiven in einer fiktiven Welt. 

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