Entrückt

Zwei Wochen kann man sich an keinen Traum erinnern, und dann kommt es wieder. Ein Filmfest, Gedränge, Fritz und die Geige, ich suche die Unterfahrt, und ein schönes Mädchen mit orangenen Kleidern legt sich zu mir, und am andern Tag feiere ich mit meiner Schwester ein neues Buch, die Sonne blendet, der Himalaya ist klar zu sehen, doch Wolken ziehen auf und wir rennen los, barfuß auf Asphalt, und ich denke: Ein Fahrrad wäre jetzt schön. Und dann eine neue Episode …

murnauer_moos_03Diese nächste Episode war traumhaft, sie schwang nach, ich spürte ihren Geschmack noch und versuchte krampfhaft, mich zu enrinnern. Doch das Geschehen entzieht sich, wird entrückt .. Zum Verrücktwerden, es war so viel los, und nun: nichts. Das pure Nichts. Schade. Ich darf nicht sagen: Ich kann mich nicht erinnern, also ist es nicht geschehen. Da war ja was.

So ungefähr stelle ich mir das Leben mit Demenz vor. Jemand sagt: Deine Tochter war doch gestern hier! — Ja, wirklich? Ich erinnere mich nicht daran, beim besten Willen nicht. Mag sein, dass da was war, vieles liegt im Nebel, ich sehe nichts. Was wollen die von mir?

Für meine Mutter waren die zwei Wochen im Zimmer vielleicht wie ein einziger Augenblick. Sie saß da, erzählt man, schlenkerte mit den Beinen, aß und trank, manchmal besser, manchmal schlechter. Dann durfte ich sie aus der Ferne sehen, sang ihr Marienlieder vor, doch sie schaute mich nur verständnis- und teilnahmslos an. Früher hat sie unaufhörlich geredet, heute sagt sie nur mehr ein paar Worte. An unsere gemeinsamen Reisen erinnert sie sich nicht mehr. Doch sie ist noch da und 90 Jahre alt. Sie könnnte auch nicht mehr da sein. Es ist eigentlich schöner als früher, weil sie so emotional und unberechenbar ist.

kraemer_helmut_verdunklungIch bin überzeugt, dass die geistige Gesundheit nach dem Leben wiederkehrt. Verrückte und Demente erhalten wieder ihr früheres Ich. Dazu wird es eine längere Erholungspause brauchen. Der Körper verfällt ohnehin; das Gehirn brauchen wir nicht mehr. Der Geist schwebt um uns her.

Das Gehirn, das bei Dementen gestört ist, überträgt die Daten des Bewusstseins, das sogar weiter speichert und wahrnimmt, wenn das Gehirn tot ist. Beispiel dafür sind außerkörperliche Erfahrungen bei ausgeschaltetem Gehirn, und das ist in der Vergangenheit oft vorgekommen. Die berühmteste Episode spielte sich vor etwa 30 Jahren in den USA ab. Eine Frau (Sara Gideon) hatte eine Gehirn-OP vor sich mit der Überlebenschance von 50 Prozent. Man musste ihr Gehirn »vom Netz nehmen«, und dennoch hörte sie, worüber die Chirirgen während der Operation sprachen. Ich habe den Fall in einer Rezension erwähnt.

 

 

 

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