Der Vater eines Mörders

Der Titel ist der einer Erzählung von Alfred Andersch, die erst 1980 erschien, kurz nach seinem Tod. Der Autor dachte an seine Kindheit in München und vor allem an seine Schulzeit im Wittelsbacher Gymnasium. Der furchteinflößende Direktor, kurz Rex genannt (König, lateinisch), besucht eine Griechisch-Stunde und demütigt den vermeintlich faulen Schüler, der in der Erzählung Franz Kien heißt, und dann fliegt er, der Junge, von der Schule. Der Direktor hieß Himmler und war Vater von Heinrich Himmler, dem ausführenden Organ des Judenmordes.

076Andersch schreibt über Himmlers Sohn im Nachwort, er sei, »soweit meine historischen Kenntnisse reichen, der größte Vernichter menschlichen Lebens, den es je gegeben hat«, gewesen. Und er fragt: »Schützt Humanismus denn vor gar nichts? Die Frage ist geeignet, einen in Verzweiflung zu stürzen.« Auch Theodor W. Adorno war verzweifelt und fragte sich irgendwo in seinen »Minima Moralia«, wozu denn Butzenscheiben und Fachwerk, Romantik und die deutschen Sinfonien und Kunstlieder gedient hätten, wenn sie die Barbarei nicht verhindern konnten. (Rechts: Auschwitz, Mauer)

DSCN4026Direktor Himmler kannte sein Altgriechisch und die gesamte Kulturgeschichte und vermittelte sie wohl mit Härte und Autorität. Gewiss war er ein Anhänger des Ultramontanismus, der dem Vatikan die Treue hielt und sich gegen Menschenrechte und Demokratie stellte. Diese absolute und gefürchtete Herrschaft des Schuldirektors habe ich selber noch miterlebt und in Schul-Erinnerungen geschildert. 1968 war das in Bayern ähnlich wie 40 Jahre zuvor, 1928, bei Andersch. Dazwischen lagen der Weltkrieg und die Nazi-Diktatur. Der (Un-)Geist blieb sich gleich und machte einfach weiter. Heinz Reinefarth etwa, der »Henker von Warschau«, der 1944 in Wola bei Warschau 20.000 Menschen umbringen ließ (und sich beklagte, es fehle ihm an Munition, um alle Zivilisten — wie von Himmler befohlen — töten zu können), war von 1951 bis 1964 Bürgermeister von Westerland auf Sylt und saß bis 1967 im Landtag Schleswig-Holsteins. (Illustration links: Der heilige Paulus, vor San Paolo fuori le mura, Rom)

Die Kultur erhebt den Menschen und soll ihn glücklich machen. Doch wenn sie den Schülern unter Furcht und Schrecken eingepeitscht wird, führt das zu Traumata und Ablehnung. Man will jemanden zu seinem Glück zwingen und kontaminiert das Schöne mit »seelischer Grausamkeit«, was früher ein feststehender Ausdruck war. Nein, Sokrates, Beethoven und Schubert hätten nicht gewollt, dass ihre Werke dazu dienen, Kindern Angst zu machen. Und die griechische sowie die lateinische Sprache öffnen einem Welten — wenn man  nicht traumatisiert ist, weil man stundenlang Verben deklinieren musste.

Zum Glück ist diese Zeit der »unerbittlichen Härte«, die Hitler von seinen Gefolgsleuten verlangte, vorbei. Dennoch muss man aufpassen. Wiederum 40 Jahre später, heute, geht es im Leben der Firmen, Gesellschaften und Staaten auch nicht unbedingt liebevoll zu. Es gibt Regeln, die unbedingt eingehalten werden müssen, und wir werden überwacht und bestraft, wenn ein Detail nicht stimmt. Man meint, das müsse so sein, da andernfalls die Ordnung zusammenbräche. Diese Härte ist die Angst der Anderen, doch damit müssen wir leben.

 

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