Der Musterjude

Den Roman Der Musterjude von Rafael Seligmann (1999 veröffentlicht) hätte ich lesen sollen, ja müssen, heißt doch der Protagonist Manfred, ist Münchner und macht Karriere im Journalismus … Meine Nachbarin erzählte, als sie den Roman vor sich hatte, habe sie die Worte »Manni kommt« gelesen, und ich bog mit meinem Fahrrad um die Ecke. Manni hat den Roman aber nur überflogen, und warum, erzählt er gleich.

081Seligmann wurde zehn Jahre vor mir in München geboren, also 1947. In seinem Buch lässt er Manfred Mosche Bernstein , den 40-jährigen Eigner eines Jeansladens, zu journalistischem Ruhm kommen, weil er als Jude Dinge aussprechen darf, die ein Deutscher sich nicht trauen dürfte. Viel Interna aus Redaktionskonferenzen von Magazinen, grobes Journalistengebelle, Aufregung und Talkshows, ein Auf und ein Nieder in der Karriere … da passiert eine Menge, und der Autor nennt auch die deutschen Verbrechen beim Namen und legt den Finger in die Wunde: das Unaufgearbeitete und den Schuldkomplex. Nur war mir die Handlung zu platt und zu knallig geschildert: Bettgeschichten und Saufgelage und die jüdische Mamme, einem überdrehten Woody-Allen-Script ähnelnd. (Illustration: Auschwitz, Hauptplatz)

Das wird manipogo-Leserinnen und -Leser nur bedingt interessierem, aber da ich nun einmal beschlossen habe, wieder täglich auf Sendung zu gehen (es gibt zu viel weiterzugeben, man hat ja auch eine missionarische Ader), darf ich auch etwas veröffentlichen, was mir am Herzen liegt. Morgen schreibe ich über den Journalismus, heute über das Motiv des Jüdischen und die Deutschen und überhaupt, möglichst kurz.

086Dass die Deutschen 25 Jahre nichts von ihren Greueltaten wissen wollten, habe ich erwähnt. Doch sie begleiteten sie, und immer wieder kehrte das Verdrängte zurück und störte. 1979 konnten die ersten Bücher von Überlebenden erscheinen, 1983 ließ der Stern die Hitler-Tagebücher erscheinen, die erfunden waren, 1995 startete die Ausstellung Vernichtungskrieg über die Verbrechen der Wehrmacht im Osten (und löste einen Sturm der Empörung aus), und 1998 sagte Martin Walser in einer Rede, er habe die dauernde Selbstbezichtigung satt. 55 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz war das, und Der Musterjude traf 1999 einen Nerv. (Bild: An der Rampe. Selektion in Auschwitz-Birkenau)

078Der jüdische Autor, der die Deutschen gewissermaßen entschuldet und als Weißwäscher fungiert, ist nur die helle Version des Sündenbocks. Früher, wenn man sich tödliche Epidemien nicht erklären konnte, wurde nach einer Erklärung gesucht, und eine Hexe konnte schuld gewesen sein. Tötet sie! Die Juden bedeuteten für Hitler das personifizierte Übel dieser Welt, sie galten als Schädlinge, die man vernichten konnte und sollte. Erst wurde definiert, wer Jude war, erklärte uns Raoul Hilberg, dann wurden diese abgesondert und in Lager verfrachtet und systematisch getötet.

Wer Jude war, war verloren. Manfred Bernstein wird berühmt, weil er Jude ist, und die Pointe am Schluss: Seine jüdische Mutter weiß nicht, wer sein Vater war, vermutlich ein Deutscher, sie gab sich mit vielen Männern ab. Mosche oder Manfred ist also kein echter Jude, allenfalls ein halber, die ganze Konstrukton der Medien zerfiel in ein Nichts, alles nur Projektion. Da muss man an das Theaterstück Andorra von Max Frisch denken, in dem Andri von seinem Dorf für einen Juden gehalten wird und selber daran glaubt und schließlich für eine ihm zugeschriebene (ihm zugetraute) Bluttat sterben muss. Doch Andri war der Sohn des Lehrers, er war kein Jude. Die Dorfbewohner bezichtigen sich: Wir alle haben es geglaubt, es tut uns leid.

Aber können wir das so stehenlassen? Liegt die Schuld nicht darin, überhaupt jemanden für schlecht zu halten, weil er anders ist, vielleicht grüne Haut hat oder stechende Augen oder komische Klamotten? Da sind wir bei Stereotypen, Verallgemeinerungen, Vorurteilen, Abneigungen, durch die man durchsehen können müsste (muss) auf den Menschen, der vor uns steht und uns gleich ist: unser Bruder, unsere Schwester.

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