Flugverkehr (106): Hanna Reitsch

Wieder so ein Fund aus dem Second-Hand-Regal. Hanna Reitsch (1912-1979) war Segelfliegerin und hatte internationale Erfolge aufzuweisen, doch ihre Nähe zu Goebbels, Göring und Hitler hing ihr an und verfolgte sie, so dass sie 1974 sogar die deutsche Staatsbürgerschaft abgab und die österreichische annahm. Ob das nun besser war? Die tollkühne Pilotin erwies sich als unbelehrbar. Das Buch heißt Höhen und Tiefen.

2020-10-05-0001Schon auf Seite 14 erinnert der Stil ihrer Eloge auf den Segelsport an die markigen Parolen und den Pathos der Nationalsozialisten:

Rechts und links meines Flugweges glitzerten schneebedeckte Bergriesen. Das Glück über diese nicht zu beschreibende Schönheit lässt einen innerlich jubeln und danken. Wir Segelflieger sind begnadet glückliche Menschen, denn »unser Sport« — wohl einer der schönsten, die es gibt — vermittelt eines der letzten großen, menschlichen Abenteuer unserer Zeit. Es ist wohl gerade dieses wundersame Erlebnis, verbunden mit der Gefahr, (…) das uns Segelflieger in einer unvergleichlichen Kameradschaft verbindet. Dies wird ganz besonders stark spürbar, wenn wir einen Kameraden gemeinsam zu Grabe getragen haben, wie jetzt Jochen von Kalckreuth, dessen Herz dem Alpensegelflug gehörte.

Hanna Reitsch kam 1912 im schlesischen Hirschberg (Wałbrzych) zur Welt. Die kleine Frau (1,50 groß) bewährte sich im Segelflug und wurde bald als Testpilotin für Stukas und Bombenflugzeuge verpflichtet. 1937 flog sie den ersten deutschen Hubschrauber und wurde zum Flugkapitän ehrenhalber ernannt (und schrieb unter ihren Namen immer »Flugkapitän«). Sie setzte sich (laut Wikipedia) für den Einsatz von Kamikaze-Flugzeugen im Krieg ein und hatte den Vorschlag selbst gemacht. In den letzten Kriegstagen (am 27. April 1945) flog sie in das besetzte Berlin ein, um Ritter von Greim zu Hitel zu bringen. Darüber schreibt sie in dem Kapitel Mein Erleben im »Hitler-Bunker«:

Auf halber Treppe kam mir Frau Goebbels entgegen ,,, und begleitete uns in den untersten Teil des Bunkers (den sogenannten ›Führerbunker‹), wo uns der Führer in seinem grauen, schlichten Soldatenrock entgegenkam. Seine Gestalt war etwas nach vorn gebeugt, seine Arme zitterten ununterbrochen und seine Augen schienen nicht mehr im Diesseits zu ruhen. Mit unwahrscheinlich leiser Stimme begrüßte er uns   … und sagte mit fester, aber leiser Stimme: ›Sie tapfere Frau, es gibt noch Treuze und Mut auf der Welt.‹ 

Göring habe ihn verraten, meinte Hitler und ernannte von Greim an dessen Stelle. Hanna Reitsch war der Ansicht, Göring hätte bereit sein müssen, den Untergang zu ertragen. Ja, der Nationalsozialismus erscheint einem heute wie ein Selbstmordkommando von völlig Irrsinnigen, bei dem der Untergang schon eingeplant war; und viele Millionen Menschen mussten mit. Frau Reitsch steigert sich so hinein, dass sie todesmutig sogar noch steigert: todesmutigst!

Die deutschen Flieger haben in tapferster, ehrenhaftester und todesmutigster Weise ihr Leben eingesetzt in der Hoffnung, ihr Vaterlnd zu retten, im Glauben an den Führer, im Stolz auf die Luftwaffe und sein Oberhaupt. Es mag eine Führung richtig oder falsch gewesen sein — das zu beurteilen ist nicht an mir. 

Hanna Reitsch lernt auch die sechs reizenden Goebbels-Kinder kennen, die Vater Josef umbringen würde, seinen Selbstmord begleitend. Der Führer meint, sie solle ausfliegen. Es gelingt am frühen Morgen des 28. April. (Am Nachmittag des 29. April erschoss sich Hitler.)

Kaum hatten wir den geglückten Start hinter uns und flogen über das Brandenburger Tor. so bot sich unter uns ein Bild, das man bis zu seinem letzten Atenzug wohl nie vergessen wird. Die Stadt war ein Flammenmeer! So stelle ich mir den Untergang der Welt vor!

Später die Gefangenschaft in Salzburg, Garmisch, Freising und Oberursel, Befragungen und karges Essen, aber keine Folter. Entlassung im November 1946. Frau Reitsch fügt ein, wie die deutsche noch amtierende Regierung am 23. Mai 1945 behandelt wurde:

… stürmten schwerbewaffnete englische Soldaten in den Raum, in dem Schwerin von Krosigk die Restregierung zur täglichen Routinebesprechung versammelt hatte. Alle mussten sich nackt ausziehen. Mit dem Gesicht zur Wand folgte eine Leibesvisitation, bei der unter anderem von den Engländern jedem in den After gefahren wurde. Diese Behandlung widerfuhr auch einigen Offizieren und Sekretärinnen, die sich zusammen in ihren Arbeitsräumen befanden. Zu dieser Szene wurden englische Fotografen geholt, und in alliierten Zeitungen erschienen Abbildungen mit der Bemerkung: Man habe das Herrenvolk in den Betten überrascht. Das war eine infame Tendenzlüge.
So hat sich der Sieger gegenüber der Regierung des besiegten Gegners verhalten!

Zu Hanna Reitschs Ehrenerettung sei bemerkt, dass sie Hinrich Himmler mit Fotos aus Konzentrationslagern konfrontierte. Der SS-Chef leugnete alles ab. In den Todeslagern wurden an der Rampe die Menschen aufgestellt, und die nach links selektierten gingen zu den Waschräumen, mussten sich unter der Peitsche und bei Schreien und Hundegebell nackt ausziehen, und dann wurden allen die Haare abrasiert; dann Desinfektion und die Gaskammer. In Treblinka, Bełzec und Sobibór starb auf diese Weise in weniger als einem Jahr eine Million Juden.

 

 

 

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