Am Turme
Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) kam bei manipogo noch gar nicht vor. Das ist ein Versäumnis. Doch die adelige Dame hat meistenteils lange Balladen geschrieben, die sich zur Veröffentlichung nicht so eignen. Gar sschaurig ist’s, übers Moor zu gehen: Das kennt man. Überhaupt erzählt sie viele schauerliche Geschichten; gothic lag im Trend. Doch heute: Annette als Feministin.
Sie wäre gern ein Mann, bricht es (im Gedicht Am Turme) völlig ungeahnt aus ihr hervor, der blassen, in sich gekehrten Schriftstellerin, die von Schloss Meersburg, wo sie lebte, gern über den Bodensee schaute. Wir denken dabei unwillkürlich an Frenchman’s Creek von Daphne du Maurier, dessen Protagonistin Dona St. Columb auch eher Abenteuer und Aufregungen im Sinn hat als Heim und Herd. Frau von Droste-Hülshoff interessierte sich nicht für Politik und war in Levin Schücking verliebt, der jedoch eine andre nahm; ihr Leben war ohne große Ereignisse, und irgendwann starb sie dahin.
Eine Geistesverwandte von ihr war Emily Dickinson (1830-1886), die völlig zurückgezogen lebte und der Welt eine Fülle von geistreichen, auch witzigen Kurzgedichten hinterließ. Auch sie kam noch nicht vor bei manipogo; das muss sich ändern.
Überhaupt: Immer wieder bin ich überrascht, dass Poesie und schöne Sprache von euch geschätzt werden. Wir dürfen Hoffnung haben! Am meisten Leser (ziirka 5.600) hatte ich einmal für Heine-Gedichte, und der Beitrag Oktober (2) vor 4 Tagen setzte sich mit fast 5000 Klicks auf den zweiten Platz. Ich bin begeistert!
In der Gesamtausgabe der Droste-Hülshoff fand ich auch ein scherzhaftes Gedicht über junge Männer, die der Ansicht sind, an ihnen sei ein Kanzler oder ein König verlorengegangen. Und Letzte Worte hat sie auch formuliert, die müssen auch hierher. Auf Schloss Meersburg gibt es ein Museum mit ihrem Arbeitszimmer, und ihre Grabstätte (siehe unten rechts) liegt auf dem Friedhof der Stadt am See.
Am Turme
Ich steh auf hohem Balkone am Turm,
Umstrichen vom schreienden Stare,
Und lass gleich einer Mänade im Sturm
Mir wühlen im flatternden Haare;
O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand,
Auf Tod und Leben dann ringen!
Und drunten seh ich am Strand, so frisch
Wie spielende Doggen die Wellen
Sich tummeln rings mit Geklaff und Gezisch
Und glänzende Flocken schnellen.
Oh, springen möcht ich hinein alsbald,
Recht in die tobende Meute,
Und jagen durch den korallenen Wald
Das Walross, die lustige Beute!
Und drüben seh ich ein Wimpel wehn
So keck wie eine Standarte,
Seh auf und nieder den Kiel sich drehn
Von meiner luftigen Warte;
Oh, sitzen möcht ich im kämpfenden Schiff,
Das Steuerruder ergreifen
Und zischend über das brandende Riff
Wie eine Seemöve streifen.
Wär ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;
Nun muss ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar
Und lassen es flattern im Winde!
Letzte Worte
Geliebte, wenn mein Geist geschieden,
So weint mir keine Träne nach;
Dort, wo ich weile, dort ist Frieden,
Dort leuchtet mir ein ew’ger Tag!
Wo aller Erdengram verschwunden,
Soll euer Bild mir nicht vergehn,
Und Linderung für eure Wunden,
Für euren Schmerz will ich erflehn.
Weht nächtlich seine Seraphsflügel
Der Friede übers Weltenreich.
So denkt nicht mehr an meinen Hügel,
Denn von den Sternen grüß ich euch!