Parallellinien

Ich nenne diesen Beitrag wie den, den ich vor über elf Jahren für die Kritische Ausgabe plus schrieb. Es geht um den Reim. Wenn ich solche Vierzeiler lese wie in Brans Geschichte oder in der poetischen Edda, einem Epos der Isländer von 1300 ungefähr, dann dringt sofort der Rhythmus in mich ein. Das schwingt! Lyriker sind musische Menschen, und jeder hat seinen Sound. Musik dazu: Parallels von Yes.

Gerade fand ich heraus, dass wir im September die 700. Wiederkehr des Todestages von Dante Alighieri feiern. Dante! Ich wollte gern das Reimschema in der Göttlichen Komödie herausarbeiten: kunstvoll ist es, und der Dichter hielt es 99 Cantos lang durch, phänomenal. Es sind Terzinen. Greifen wir eine Stelle heraus, die mir nahe ist: Der Erzähler trifft Manfredi, den Sohn Friedrichs II., der in einer Schlacht bei Benevento 1366 umkam. Zeile 104 des dritten Gesangs (canto) im zweiten Teil, dem Purgatorium, endet mit dem Wort viso, Zweile 105 mit unque. Nun geht es weiter:

2021-01-24-0002Io mi volsi ver lui e guardai fiso:
biondo era e bello e di gentile aspetto,
ma l’un de‘ cigli un colpo avea diviso.
Quand’i‘ mi fui umilmente disdetto
d’averlo visto mai, el disse: « Or vedi »;
e mostrommi una piaga a sommo ‚l petto.
Poi sorridendo disse: « Io son Manfredi,
nepote di Costanza imperadrice;
ond’io ti priego che quando tu riedi,
vadi a mia bella figlia, genitrice
dell’onor di Cicilia e d’Aragona,
e dichi il vero a lei, s’altro si dice.

Wenn wir viso in Zeile 104 als a bezeichnen und unque als x, geht es so weiter (angefangen mit viso):

a x a b a b c b c d c d e …

Immer nach dem zweiten Reimwort der Terzine drängt sich die nächste ein, und das Schema verkoppelter Dreier-Stanzen zieht sich zuverlässig durch. Bestimmt gibt es einen Fachausdruck dafür. Dantes Hauptwerk war 1320 beendet; Ludovico Ariosto (1474-1533) baute seinen 200 Jahre später erschienenen Orlando furioso auch auf Terzinen auf. Ein Beispiel:

Non dovevi assallir con le fiere armi,
Se bramar veder farle difesa.
Non sai tu, contra l’oro, che nè i marmi
Nè l’durissimo acciar sta alla cortesa?
Che più fallasti tu a tentarla parmi,
Di lei che cosi tosto restò presa.
Se te altrettanto avesse ella tentato,
Non so se tu più saldo fossi stato.

Hier haben wir a b a b a b c c. Und auch Ariost hält das über hunderte Seiten durch: immer acht Zeilen mit demselben Schema.

Alexander Blok, der russische Lyriker (1880-1921), schrieb: »Es gibt eine Mathematik des Wortes (wie auch eine Mathematik für alle anderen Künste), besonders für Gedichte.«

Und Roman Jacobson, der russische Linguist (1896-1982), meinte: »In der Kunst streben wir danach, nicht nur Einheit, Fortdauer des Gesetzes, Ähnlichkeit zu realisieren, sondern damit auch Unterschied, Variation, Kontrast: Es ist der Reim, den wir lieben; nicht das Echo und nicht den Einklang, sondern Harmonie.« Niemand ist allein; das nächste Wort am Zeilenende gibt dem vorherigen seinen Sinn, und das vorherige lockte das Reimwort erst an. Die Parallelen sind im Wort Parallellinien auch grafisch verkörpert. Waren nicht Adam und Eva die ersten Menschen, sind wir nicht in Paaren erschaffen worden?

 

Illustration: Das Monument für Dante in der Basilika S. Croce in Florenz

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