Das Medizinsystem und seine Sünden

Diesen Beitrag habe ich lange vor mir hergeschoben, weil er schwierig zu werden versprach. Aber einmal muss es sein. Erich Freisleben klagt in Medizin ohne Moral über die Rückschritte der vergangenen 30 Jahre und skizziert die gegenwärtige Lage. Es gehe in Richtung einer teuren Techno-Medizin in der Hand von Effizienzexperten und ärztlichen Automaten.   

Ich will es mir einfach machen und mich bei Freislebens Zusammenfassung bedienen (S. 177/178), dem »Sündenregister« der modernen Medizin und Gesundheitspolitik, wie er das nennt. Seine Grunderkenntnis:

Die Fixierung auf die biologische Seite von Menschen und Krankheiten hat zu einer enormen Vernachlässigung der körperlich-seelischen und geistigen Zusammenhänge geführt. Dies betrifft die Forschung, das Medizinstudium und die medizinische Praxis.

DSCN5398Daher würden die Selbstheilungspotenziale des Menschen nicht mehr ausgeschöpft, man werde vom Medizinsystem abhängig, eine überteuerte Facharztmedizin sei entstanden und eine kostenträchtige »Medikalisierung der Gesundheitsprobleme«. Arme Hausärzte! (Bild rechts: Buch aus den 1960-er Jahren, aus meiner Kindheit. Da war er noch ein »Halbgott in Weiß« .. oder hier: in Schwarz. Priesterlich.)

Die Gesundheitspolitik unterstütze diesen Trend durch einseitige Investitionsschwerpunkte in der Forschung, die Nichtachtung alternativer oder komplementärer Heilungswege, durch »Unterfinanzierung der Basismedizin und Überfrachtung dieser mit Bürokratie«, mangelhafte Regulierung des Markts für Arzneimittel und Medizinprodukte, durch leichteren Zugang für »kostenträchtige Spezialitäten« sowie »fehlende Obergrenzen für ausufernde Kosten«.

So werde dieses überzüchtete System künftig kaum mehr finanzierbar sein. Schon jetzt wird auf der einen Seite gespart (was man euphemistisch Effizienzsteigerung nennt), um woanders freigebig zu sein — und dort, wohin ohnehin schon genug Geld fließt. Im vergangenen Dezember erhielt ich wie viele Millionen einen Brief von der AOK (Allgemeine Ortskrankenkasse), in dem angekündigt wurde, es sei »leider notwendig, den kassenindividuellen Zusatzbeitragssatz von 1,1 auf 1,3 % anzuheben«. Warum? »Steigende Kosten für Ärzte, Kliniken und Arzneimittel«.

Die Krankenkassen haben in diesem Sytem die Macht und das Geld. Sie setzen auch die Hausärztin unter Druck. Für die Super-Medizin zahlt der einfache Bürger. Eine Kollegin soll eine kleine Rente aus der Schweiz erhalten. Die Krankenkasse fordert nun eine Rückzahlung aufgrund spezieller, undurchschaubarer Berechnungen. So — durch Einschnitte bei den Kleinen — werden Pharmafirmen und Kliniken alimentiert, und die Zahl der Kliniken möchte man auch gern beschränken. Die Kliniken sind nämlich auch unter Druck. Sie bekommen ihre Fallpauschalen und müssen viel operieren, um ihren Standard zu halten und weiter Geld zu bekommen.

Da war der junge flotte Orthopäde, den ich wegen eines Problems im rechten Bein aufsuchte. Meine Geschichte wollte er gar nicht hören: »Zum Röntgen«, sagte er, »dann sprechen wir uns wieder«. Hüftgelenksarthrose rechts diagnostizierte er danach, sagte, das komme nach millionenfachen Bewegungen eben vor (Unsinn, man weiß nicht genau, woher es kommt), prophezeite immer mehr Schmerzen und stellte es so dar, als seien in meinem Alter Menschen mit einem künstlichen Hüftgelenk das Normalste auf der Welt. »Auf Wiedersehen.« (Ganz bestimmt nicht.) Der Orthopäde gehörte mit seiner Praxis zum Krankenhaus der Stadt, und klar, er will seine Operation verkaufen. Um das zu schaffen, macht er dir Angst. So weit sind wir gekommen.

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