Viele Stufen

Aus Rachel Remens Buch Dem Leben trauen habe ich bereits drei Geschichten genommen, und hier kommt eine vierte. Im Original heißt das Buch Kitchen Table Wisdom (Weisheiten vom Küchentisch oder vielleicht Küchenlatein?) Die Ärztin verhehlt auch in diesem Buch nicht, dass sie immer  mit der Medizin-Ausbildung unzufrieden war. Sie fördert mit ihrem Institut andere Ansätze; dies als Gegengewicht zum gestrigen Sündenregister.

06-151-21976 gründete Frau Remen, die 1938 geboren wurde, mit Michael Lerner in Bolinas (Kalifornien) Commonweal mit dem Motto Heile dich selbst und den Planeten. 1990 rief sie das Institut für das Studium von Gesundheit & Krankheit ins Leben (ISHI), dessen Ausbildungsgang The Healer’s Art (HART – die Kunst der Heiler) an vielen Universitäten gelehrt wird. Der Kursus und das Institut wollen die Beschäftigten im Gesundheitswesen ansprechen, die »die tiefere Bedeutung ihrer Berufung erkennen und diese in der täglichen Arbeit umsetzen wollen«.

Der Wahlspruch auf Rachel Naomi Remens Homepage lautet Erinnere dich an deine heilende Kraft. Wenn wir Blog anklicken, stellen wir leider fest, dass der letzte Eintrag in Rachels Blog von Oktober 2016 datiert, also über 5 Jahre her ist. Hoffen wir, dass es daran liegt, dass Frau Doktor, mittlerweile 84 Jahre alt, immer noch zu viel zu tun hat. (Damit wären auch mal ein paar Frauen zum Zug gekommen. Ich will nicht immer nur Männer vorstellen.)

Nun noch die Geschichte um die vielen Stufen. Ich schlug das Buch spontan auf und las den Beitrag einer Frau im Altenheim vor und fand ihn so gelungen, dass ich ihn wiedergeben möchte.

Aerial view of the Statue of Liberty.

Aerial view of the Statue of Liberty.

Rachels Mutter würde 80 werden. Wie sie den Tag verbringen wolle? Sie wolle hinauf auf die Freiheitsstatue, zu Fuß, sagte die schwer herzkranke Frau. Rachel schluckte. Dann aber packte sie die Tabletten ein und ging mit ihrer Mutter los, die 75 Jahre zuvor, mit dem Schiff als Fünfjährige von Russland kommend, die Statue zum ersten Mal erblickt hatte. Seither war sie nie oben gewesen. Die vielen Stufen kann man beziffern: Es sind 342. Alle drei Stufen machten Mutter und Tochter eine kurze Pause. Sechs Stunden brauchten sie, um in den Kopf der Statue einzudringen und um sich zu schauen. (Vom Rückweg sagte sie nichts … Bild übrigens von Carol M. Highsmith, zwischen 1980 und 2006, Dank an die Library of Congress, Wash. D. C.) »Halb New York« habe sie auf den Treppen überholt, erinnerte sich Rachel Remen, die zusammenfasste:

Wenn ich heute an diese Geschichte zurückdenke, fällt mir ein, wie oft auch ich mich über diese anstrengenden Unternehmungen geärgert habe, die jedoch letztlich für das Verständnis dessen, was Leben heißt, notwendig waren — und die mir zeigten, wie wichtig es ist, sich beim Kampf um die Freiheit weder von gewohnten Verhaltensweisen oder Erwartungen an sich selbst einschränken zu lassen noch sich um die Meinung anderer zu kümmern. Es kommt darauf an, die wirklich wichtigen Dinge zu tun, so gut es eben geht, auch wenn man dabei vielleicht jedes Mal nur drei Stufen vorwärts kommt. 

Ja, das Verständnis dessen, was Leben heißt … Vor diesem Beitrag, am Nachmittag, war ich zwei Stunden mit dem Rad unterwegs, an der Sonne, weil man langsam wieder in Form kommen muss. Der Bewegungsdrang ist in uns drin und auch der Wunsch, uns anzustrengen, manchmal sogar bis zum Limit oder gar über seine Grenzen hinaus. Leben ist mehr als in einem Häuschen zu sitzen und möglichst bequem den Tag zu verbringen. Alle wollen uns das Leben leichter machen, doch das sind die Advokaten des Teufels. Mit dem E-Bike 100 Kilometer zu fahren ist nicht halb so befriedigend, wie es mit einem motorlosen Rad zu tun; die Freude liegt nicht nur im Erreichen des Ziels, sondern auch in der Anstrengung. Erst wenn wir etwas investiert, wenn wir gekämpft haben, werden wir mit Stolz auf uns schauen. Bequem leben ist fad und macht uns traurig.

Die anderen drei Geschichten:
QuerenciasFlugverkehr (129): Der Flug der SeeleDie Babyküsserin

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