Die Babyküsserin

Nach Lucis überraschendem Ableben ist sein Antiquariat in Basel verwaist. Tausende Bücher mit Esoterik und fernöstlichem Gedankengut werden günstig verkauft (Montag bis Freitag 9-12 Uhr, Neuweilerstrasse 15). Bei meinem jüngsten Ausflug dorthin (mit dem Zug; zurükmit Rad, 100 Kilometer) nahm ich neben anderen das Buch Dem Leben trauen von Rachel Naomi Remen mit. Untertitel: Geschichten, die gut tun.

Das sind wunderbare kurze Geschichten, die sich auch zum Vorlesen eignen. Frau Remen ist heute 83 Jahre alt und war Therapeutin, nachdem sie als Kinderärztin angefangen hatte. Sie war zeitlebens schwer krank und wurde zur »verwundeten Heilerin«. In ihren Erzählungen geht es oft um Ärzte, die meistens ihre Klienten waren, und da wird es dann auch traurig und tragisch, da die Akteure in der Medizin oft einem starren Standesethos folgen, das ihnen angelernt wurde, und es so manchmal an Menschlichkeit fehlen lassen.

service-pnp-hec-30400-30480rIn dem Beitrag Die Babyküsserin teilt Rachel Naomi Remen uns mit, dass sie gern unter einem Vorwand auf die Station ging und Babys einen Gutenachtkuss gab. Manchmal sang sie ihnen auch etwas vor. Sie schwieg darüber, weil solch ein Verhalten als unprofessionell galt und sie dafür von ihren Kollegen, meist Männern, verachtet werden würde. Bis sie Stan, ihren Chef, sah, als er ein leukämiekrankes Mädchen auf die Sirn küsste. Einmal sagte sie ihm, dieser Vorfall hätte ihr viel bedeutet; doch Stan leugnete es schlichtweg. Sie waren dauernd zusammen im Dienst, doch es wurde nie mehr erwähnt. Es zuzugeben, hätte für Stan einen Imageverlust bedeutet. Frau Remen schreibt:

Ich habe schließlich aufgehört, Babys zu küssen. Es stand einfach zu viel für mich auf dem Spiel.
In gewisser Weise ist das Medizinstudium selbst eine Art Krankheit. Es dauerte Jahre, bis ich mich völlig davon erholt hatte.

Der Notfallarzt Harry wurde zu einer hochschwangeren Frau gerufen. Die Hebamme zu holen, war keine Zeit mehr, er musste das Kind herausholen. Er hatte schon Hunderte von Frauen entbunden, schaffte es auch diesmal, nahm den Säugling auf seinen linken Arm und reinigte ihn.

Plötzlich öffnete das Neugeborene die Augen und schaute ihn direkt an. In diesem Moment fiel Harry gewissermaßen aus der Rolle. Er, der »Techniker«, wurde sich einer ganz einfachen Tatsache bewusst. Er war das erste menschliche Wesen, das dieses Mädchen sah. Voller Mitgefühl hieß er es im Namen aller Menschen willkommen, und Tränen stiegen ihm in die Augen.

Die Bedeutung seiner Tätigkeit habe er früher nie wirklich erfahren, meinte Harry später. Deshab sei diese Entbindung eigentlich seine erste gewesen; er habe Geburtshilfe immer als Arzt, nicht als Mensch geleistet.

 

Illustration: Harris & Ewing, 1915-23, Dank an Library of Congress

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.