Flucht aus Byzanz

Flucht aus Byzanz heißt ein Buch von Joseph Brodsky, dem russischen Literatur-Nobelpreisträger von 1987. Darin stehen unvergessliche Sätze über die Literatur und die Sprache, und ergänzen sollen sie ein paar Erkenntnisse von Paul de Man, einem belgischen Linguisten. Als ich Brodskys Auszüge wiederlas, war das wie ein Déjà lu (schon gelesen), ein Wiedererkennen von vergessen geglaubten Weisheiten.   

R.b6a08130bd19576b5da1a754a9f43d61Brodsky wurde 1940 in Leningrad geboren und starb 1996 in New York. Seine sterblichen Überreste sind auf der Friedhofsinsel San Michele bei Venedig bestattet. Er schreibt in Flucht aus Byzanz (1988):

Er (Dostojewski) hatte das sichere Gefühl, dass Kunst nicht vom Leben handelt, und sei es nur, weil das Leben nicht vom Leben handelt. 

Mit anderen Worten, die Kunst ahmt eher den Tod als das Leben nach: die Sphäre, von der das Leben nichts zu berichten hat. Im Bewusstsein der eigenen Kürze versucht die Kunst, die längste mögliche Lesart der Zeit einzuholen. Was letztlich die Kunst vom Leben unterscheidet, ist ihre Fähigkeit, einen höheren Grad der lyrischen Diktion zu erzeugen als sonst eine menschliche Umgangsform. Darum ist die Dichtung die Nachbarin — wenn nicht sogar die Erfinderin — des Lebens nach dem Tode.

Ich denke an das Auftauchen der großen russischen Prosa in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Diese Prosa, die aus dem Nichts zu kommen scheint, als eine Wirkung ohne erkennbare Ursache, war tatsächlich einfach nur ein Ableger der russischen Lyrik des neunzehnten Jahrhunderts. Sie gab den Ton an … Der Prosa geht immer die Lyrik voraus. 

Das Abwerfen des Überflüssigen ist per se der Geburtsschrei der Poesie — der Klang gewinnt die Oberhand über die Wirklichkeit, das Wesen über die Existenz.

Jedes gesagte Wort verlangt nach irgendeiner Fortsetzung … Die scheinbar künstlichsten Organisationsformen der poetischen Rede sind in Wirklichkeit lediglich die natürliche mehrmalige Ausarbeitung des Echos in allen Einzelheiten, das auf das Anfangswort folgte.

Nur wenn man davon überzeugt ist, dass die Entwicklung des homo sapiens zum Stillstand kommen sollte, darf die Literatur die Sprache des Volkes sprechen. Umgekehrt sollte das Volk die Sprache der Literatur sprechen. 

Richtig! Goethe meinte auch, das Volk sollte nicht lesen, was es lesen will, sondern was es lesen soll. Das klingt elitär, ist aber gut gemeint. Wir wollen doch Fortschritte!

Paul de Man (1919-1983) schrieb Unvergängliches in seinem Buch Allegories on Reading (1979).

verflogen_2Avital Ronell, die israelische Germanistin (geboren 1952), beschrieb de Mans Gedanken in ihrem Buch Stupidity (2002). Bedeutung entstehe manchmal durch reine Zufälligkeit, durch Improvisation und Verzicht auf Kontrolle. Es gebe einen zufälligen oder maschinellen Aspekt der Sprache, der nicht auf ein System von Absichten, Wünschen oder Motiven zurückgeführt werden könne, meinte der belgische Linguist.

So ist die Sprache: Sie schlägt immer zu, trifft aber nie. Sie bezieht sich immer auf etwas, stellt aber nie die richtige Beziehung her. Die Sprache trifft nie, sie bedient sich der Erfahrung des Versagens, indem sie ihr Versuchsfeld dem unlösbaren Konflikt zwischen Erkenntnis und Ausführung (cognition/performance) öffnet.  

DSCN3994Marcel Proust schrieb einmal, Überredung gelinge durch eine Art Spiel, in der beliebige Figuren des Zufalls sich in betrügerischer Weise als Figuren der Notwendigkeit maskieren. Lesen, meint Paul de Man, sei eine Beziehung zwischen Innen und Außen. Eine Beziehung zwischen der Äußerung und einem Adressaten existiere nicht, und die Trennung zwischen Autor/in und Leser/in sei eine falsche Unterscheidung, die uns das Lesen erkennen lasse.

Ja, ich lese, und das Gelesene nimmt ein Eigenleben an und ruft Assoziationen in mir hervor, die völlig anders sein mögen als die Assoziationen anderer Leserinnen. Wer es geschrieben hat, ist eigentlich egal, und Jorge Luis Borges sagte einmal, dass die ganze Literatur vielleicht von einem Menschen stamme, dass sie ein kollektives Werk der Menschheit sei.

 

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