Die zwei Seiten der Medaille

Borges ist fantastisch. Seine Erzählungen sind mit mathematischer Präzision und gleichzeitig mit Feuer geschrieben, und am Ende gibt es eine Überraschung, bei der sich ein Abgrund auftut. Ich versuche, ein bestimmtes Motiv herauszuarbeiten, das Borges dankenswerterweise selbst erläutert hat. Es geht um die von Giordano Bruno geäußerte Erkenntnis, dass sich die Extreme berühren.

Gehen wir mal induktiv vor — von der allgemeinen Lehre zu den Einzelfällen. Die Geschichte des Kriegers und der Gefangenen endet mit einer Einlassung des Autors, die vieles erklärt, aber nicht alles:

Die Figur des Barbaren, der sich für die Sache Ravennas einsetzt, und die Figur der europäischen Frau, die sich für die Wüste entscheidet, könnten uns wie Antagonisten vorkommen. Ohne Zweifel beseelte beide ein geheimer Drang, ein Drang, der tiefer war als die Vernunft, und beide folgten jenem Drang, den sie nicht erklären hätten können. Vielleicht sind die Geschichten, die ich wiedergegeben habe, nur eine einzige Geschichte. Die Vorderseite und die Rückseite dieser Medaille sind — vor Gott — gleich.  

Jorge Luis Borges hat einmal gesagt, dass die ganze Literatur vielleicht von einem einzigen Wesen geschrieben wurde (und dessen ganzer Widerspruch darinsteckt). Gott erwähnt er, weil sich ein eigener Blick auch von weit her auf die Personen richtet. Aus der Entfernung verlieren Details ihre Schärfe, und wir sehen klarer.

Der Barbar ist Droctulft, der mit lombardischen Kriegern um das Jahr 600 Ravenna belagert, als ihn irgendetwas berührt; er läuft zu den Feinden über und verteidigt die Stadt an der Adria, bis er fällt. Die Einwohner stifteten ihm eine Statue mit Inschrift. Droctulft sei kein Verräter gewesen, schreibt Borges, sondern ein Erleuchteter, ein Konvertit. (Die erwähnte Frau war Engländerin und wollte nicht zurück; sie lebte freudig in Australien.)

Tadeo Isidoro Cruz (Biografia de Tadeo Isidoro Cruz, 1829-1874) verfolgt mit einer Gruppe von Soldaten den Deserteur Martin Fierro, und dann geschieht etwas:

Er begriff sein intimes Schicksal als Wolf und nicht als Jagdhund; er begriff, dass der andere er selbst war. 

Also legte er die Waffen nieder und zog die Uniform aus und kämpfte mit Fierro gegen seine früheren Soldaten. Wieder ein Erweckungserlebnis! Wir kennen ja die archetypische Geschichte:

Unterwegs aber, als er sich bereits Damaskus näherte, geschah es, dass ihn plötzlich ein Licht vom Himmel umstrahlte. Er stürzte zu Boden und hörte eine Stimme, die sagte: »Saul, Saul, warum verfolgst du mich?« Er antwortete: »Wer bist du, Herr?« Dieser sagte: »Ich bin Jesus, den du verfolgst. Steh auf und geh in die Stadt, dort wird dir gesagt werden, was du tun sollst.« (Apostelgeschichte 9,3-6)

Die Feinde. Der Gegner. Was wir glühend hassen, lebt in einer gewissen Weise (verborgen) auch in uns; wenn nicht, wäre der Andere uns gleichgültig. Der Hass verbindet uns. Liebet eure Feinde! ist nicht völlig daneben; tatsächlich hängen verfeindete Menmschen aneinander und sind sich näher, als sie wahrhaben wollen. Ein Mann flieht wiederum bei Borges vor seinem Gegner und quartiert sich in einer Pension ein — unter dem Namen seines Feindes, Villari. Dort wird er erschossen: er, der sein Feind war, der ihn tötete und symbolisch damit sich selbst (und die Beziehung).

In dem Borges-Stück Die Theologen bekämpfen sich mit der Feder Jahrzehnte lang Aureliano und Juan de Panonia, ohne sich zu kennen. Juan wird hingerichtet, Aureliano assistiert und sieht am Ende zum ersten und letzten Mal das Gesicht des (zu Tode gebrachten) Verhassten.

Es erinnerte ihn an jemanden, aber er hätte nicht angeben können, an wen.

Das Ende sei nur metaphorisch zu fassen, meint der Autor.

Es wäre möglich zu sagen, dass Aureliano sich mit Gott unterhielt und dass dieser sich so wenig für religiöse Differenzen interessierte, dass er ihn für Juan de Panonia hielt. … Genauer wäre es, zu sagen, dass Aureliano im Paradies wusste, dass für die unergründliche Gottheit er und Juan de Panonia (der Orthodoxe und der Häretiker, der Hassende und der Verhasste, der Ankläger und das Opfer) eine einzige Person darstellten.

 

 

 

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