Teresa und Adriatico

In dem Roman Medusa findet sich eine wunderschöne Seite: Teresa und Adriatico entdecken ihre Liebe zueinander, und das hat Mario Tobino diskret und gleichzeitig deutlich geschildert. Eine Gruppe, Männer und Frauen; und zwei von ihnen fühlen sich auf geheimnisvolle Weise voneinander angezogen, nähern sich unwillkürlich einander an, bis es zur Vereinigung kommt.

Die Amerikaner haben durch ein Flugzeug ein paar Dutzend Kanister auf einer einsamen Bergwiese abwerfen lassen, und die jungen Antifaschisten mühen sich ab, einen Behälter nach dem anderen in eine versteckte Höhle zu bringen. Irgendwann sind sie erschöpft und ziehen sich zurück — doch Teresa und Adriatico sind geblieben. Er ist stark, sie ist ausdauernd und klug, und sie führen das Werk zu Ende. Sie öffnen einen Kanister und finden Waffen, aber auch Kleidungsstücke. Darunter ist ein haselnussbrauner Pullover, der Teresa gefällt. Er, Adriatico, solle ihn auseinanderfalten und schauen, ob er ihr passe. (Unten sehen wir zunächst einen Auszug aus dem Stich »Liebespaar in einer Höhle« des holländischen Kupferstechers Pieter Tanjé, 1706-1761.)

liebespaar_in_einer_hoehle

 

»Miss an den Schultern«, flüsterte sie. Die beiden standen dicht beieinander und spürten ihren keuchenden Atem. Sie umarmten sich wild. Teresa merkte, dass sie in der Umklammerung von Adriaticos Armen wie beschwingt wurde. Er suchte ihren Mund, und sie bot ihm die Lippen. Sie pressten sich immer enger aneinander. Die brennende Taschenlampe war zwischen die Wollsachen und die anderen Gegenstände gefallen und strahlte ein Licht aus, das fern schien wie eine verblassende Erinnerung. 

Adriatico löste sich von Teresa und breitete die Pullover auf dem Boden aus. Teresa beugte sich zur Lampe hinab und schaltete sie aus. Adriatico stand wieder vor ihr, kerzengerade. Teresa wartete. Adriatico legte einen Arm um ihre Hüfte und bog das Mädchen hintenüber. Teresa gab nach und streckte sich auf das improvisierte Lager aus. Sie ruhten nebeneinander. Als Adriatico begann, sie auszuziehen, kam sie ihm entgegen und half ihm.

Teresa stieß ein gehauchtes Ja aus, und dann gehörten sie einander. Der anfängliche Schmerz ging rasch und plötzlich vorüber. Sie umschlangen sich, als wären sie ein Teil der Höhle, der runden, gefurchten, gekrümmten Felsen. Die Stille, der ätherische Lichtschimmer leisteten ihnen Gesellschaft. Als sie sich voneinander lösten, hob Teresa lediglich die Hand, suchte Adriaticos Stirn, sein Haar und umschlang seinen Nacken. Diese so unschuldig eingeleitete Liebkosung verwandelte sich in eine neue Aufforderung. Ihre Jugend, ihre Liebe, die physische Kraft, das beiden völlig Neue bewirkten, dass sie einander stundenlang umarmten.

Als der zarte Schimmer, der in die Höhle fiel, so fein wurde, dass er fast ganz erloschen war, murmelte Adriatico: »Wie müssen nach Hause gehen.«
»Ja«, erwiderte Teresa schlicht. Dann war nur das Rascheln der Kleidungsstücke zu hören, die sie sich wieder überzogen.

 

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Noch ein Wort zu Mario Tobino: 1910 in Viareggio geboren, studierte er in Pisa und Bologna Medizin. Im Krieg leistete er Dienst in Libyen und schloss sich 1943 der Resistenza in der Toskana an. Tobino schrieb 20 Romane und eine Reihe Erzählungen. —Die deutsche Wikipedia hat 6 Zeilen für ihn übrig, die englischsprachige 17, die italienische 27. Deren letzten Zeilen sind bemerkenswert:

Nach dem Krieg widmete sich Tobino mit allen seinen moralischen und spirituellen Kräften den Leiden der Geisteskranken und verfolgte gleichzeitig weiter das Schreiben, das ihm eine immer größere Bekanntheit und zahlreiche Ehrungen einbrachte. Er äußerte sich gegen die Schließung der psychiatrischen Anstalten im Gefolge des Basaglia-Gesetzes (1978) und sagte, sein Leben sei dort, die Irren seien seinesgleichen, und weiter: »Die düstere Melancholie, die Architektur der Paranoia und die Ketten der Obsessionen bestehen weiterhin, auch wenn man die Irrenhäuser schließt.«   

 

 

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