Das Volk „muss schweigen“

Ein halbes Jahrhundert nach Lessing und Schiller, um 1840, gärte es in Deutschland. Ja, wirklich! Das Volk wollte gehört werden, doch der Frankfurter Bundestag hatte 1835 »Tendenzpoesie« verboten. Kritik war unerwünscht. Ein neuer Preußenkönig ließ Hoffnung schöpfen, die Dichter wurden grimmig, doch 1848 war alles vorbei, der Aufschwung der revolutionären Kräfte gebrochen. Doch einige Gedichte sind Zeugnis für die erste Erhebung deutschen Volkswillens. 

RobertPrutzDie Jahre unmittelbar vor 1848 nannte man den »Vormärz«. 1842 schrieb der Stettiner Robert Prutz (1816-1872) das Gedicht Der Minister. Das war schon ziemlich scharf. Der Autor war Dramaturg und auch Professor für Literatur in Halle, wurde aber 1841 aus Jena vertrieben, weil er die Zensur kritisiert hatte, und 1845 bekam er eine Anzeige wegen Majestätsbeleidigung.

Der Minister

Alles um des Volkes willen!
Seht, ich lache selbst im stillen
Dieser Bibeln und Postillen
Und dass man so gläubig ist:
Ich, für mich, bin Atheist!
Doch das Volk, das Volk muss glauben!
Glauben heißt der Talisman,
Dem die Erde untertan.
Wir die Adler, sie die Tauben!
Und das Volk, das Volk muss glauben,
Glauben — oder doch so tun.

Täglich in die Kirche laufen,
Himmlische Traktätchen kaufen
Und mit Jordanwasser taufen,
Samt dem christlichen Verein —
Nun, für mich sind’s Faselein,
Doch das Volk, das Volk muss beten!
Denkt, o denkt nur den Skandal,
Wenn die Bürger auch einmal
Gottlos wie der Adel täten!
Nein, das Volk, das Volk muss beten,
Beten — oder doch so tun.

Ja, wenn ich es recht ermesse,
Kann vielleicht sogar die Presse
Für Beamte und Noblesse
Schon ein wenig freier sein.
Aber für die andern? Nein!
Nein fürwahr, das Volk muss schweigen,
Wer gehorchen will, sei stumm;
Schweigend wird das Publikum
Stets sich am loyalsten zeigen.
Drum das Volk, das Volk muss schweigen,
Schweigen — oder doch so tun.

Georg_WeerthGeorg Weerth wurde 1822 in Detmold geboren. Als junger Mann ging er nach Yorkshire und lernte Friedrich Engels und 1845 Karl Marx kennen. Er wurde Kommunist. 1850 kam Weerth wegen einer Satire über den Adel für drei Monate ins Gefängnis, danach reiste er viel, landete auf der Karibikinsel St. Thomas und starb mit 34 Jahren in Havanna am Fieber.

Ein großes Problem heutzutage ist der obszöne Reichtum weniger Menschen in vielen Ländern (Russland, die USA, Indien), während für die Ärmsten wenig geschieht. Das wird sich auch nicht ändern, so lange niemand hungert. In Deutschland wurde 1845 gehungert, und das Hungerlied von Georg Weerth aus jenem Jahr ist wütend und radikal.

Das Hungerlied

Verehrter Herr und König,
Weißt du die schlimme Geschicht?
Am Montag aßen wir wenig,
Und am Dienstag aßen wir nicht.

Und am Mittwoch mussten wir darben,
Und am Donnerstag litten wir Not;
Und ach, am Freitag starben
Wir fast den Hungertod!

Drum lass am Samstag backen
Das Brot, fein säuberlich —
Sonst werden wir sonntags packen
Und fressen, o König, dich!

 

Die Gedichte sind aus dem Band Vormärz Lyrik, Hg.: Dietrich Steinbach, Verlag Ernst Klett, Stuttgart, 1980.

 

 

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