TestpilotInnen (39): Frau, beim Putzen

Die Erleuchtung kann wie aus heiterem Himmel kommen. Man braucht weder eine Lebenskrise noch 40-jährige Meditationspraxis dazu. Sie kommt, einfach so: beim Putzen zum Beispiel. Rachel Naomi Remen erzählt in ihrem Buch Aus Liebe zum Leben (2000) eine solche Geschichte.

Ich zitiere einfach aus dem Buch:

20230531_130832Eine Nachbarin, ein sehr bodenständiger und praktischer Mensch, erzählte mir einst von einer solchen Erfahrung und fragte mich, was sie meiner Meinung nach zu bedeuten habe. Sie war gerade beim Hausputz gewesen, hatte den Boden aufgewischt und eingewachst, als sie plötzlich ihr ganzes Leben schnell vor sich ablaufen sah und einer Tatsache gewahr wurde, die sie zuvor nie wahrgenommen hatte: dass nämlich eine Kohärenz darin vorhanden war, eine Ausrichtung, die durch ihr Leben verlief wie ein roter Faden. Die Entscheidungen und Ereignisse der Vergangenheit , die zu ihrer Zeit ziemlich zufällig gewesen zu sein schienen, fügten sich nahtlos auf eine völlig neue und sinnvolle Weise zusammen. Und obwohl sie diese Ausrichtung nie zuvor so klar gesehen hatte, war sie ihr doch nicht fremd. Ihr war, als sei sie ohne es zu wissen schon seit vielen Jahren einem unsichtbaren Faden gefolgt. 

Das war aber noch nicht alles.

20230601_121642Während sie da in ihrer Küche stand, mit dem Mop in der Hand und von diesem neuen Gewahrsein erfüllt, überkam sie plötzlich die tiefe Gewissheit, dass das, was auf sie persönlich zutraf, auch auf das Leben im Allgemeinen zutrifft. Alles entfaltete sich nach einem Plan. Er liegt der ganzen Existenz zugrunde und verbindet alle Dinge miteinander. Für die Dauer eines Herzschlags schien ihr, dass sie dies alles unmittelbar erfahren konnte. »Es ist eine gleichmäßige, unsichtbare Kraft«, sagte sie, »wie ein Wind.« Diese Kraft sei das Fundament, auf dem alles andere ruhe, die eigentliche Natur des Lebens selbst. Plötzlich wusste sie, dass man dem Leben, allem gegenteiligen Anschein zum Trotz, vertrauen kann, und sie begann vor Freude zu weinen. 

Auch viele Menschen lernten das in ihrer Todeserfahrung. Sie blickten auf ihr Leben zurück ohne Bedauern: Es war so. Manchmal auch sehen sie den Sinn des Ganzen und issen, dass alles so sein musste: dass alles Bedeutung hat und gut ist.

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.