Allegorie der Entschleunigung
In dieser tempoverrückten Welt wirkt ein Mensch auf seinem Fahrrad wie eine Allegorie der Entschleunigung, wie eine Allegorie der Langsamkeit. Allegorien sind Statuen oder Gestalten, die ein Phänomen verkörpern: Da gibt es Göttin Justitia und gab es früher eine Göttin der Elektrizität. Wir sind, wenn wir Rad fahren, mehr als radfahrende Menschen; wir zelebrieren eine Welt, in der es gemächlich zugeht.
Wenn ich fahre, bummle ich meistens. Am Berg werde ich komischerweise immer schneller. Und so fährst du auf der Ebene dahin, und wieder überholen dich mit hohem Tempo zwei E-Bike-Fahrer (den Berg hoch sowieso). Sie haben es immer eilig, und niemand weiß, wieso. (Bild links: Vor vielen Jahren am Klausen. Vor 6 Wochen bin ich ihn aber nochmal gefahren, im selben Dress. Es geht noch, und wie!)
Auf der Insel Santorini gab es kaum Fahrräder. Ein Verleiher hatte ein Dutzend Modelle mit Holzrahmen, die wurden meist den Strand entlang bewegt. Ansonsten gab es die lärmenden Quads, Vespas und kleine Limousinen. Sympathisch übrigens, dass die Geschwindigkeit meist auf 50 beschränkt war, doch ich sah auch Schilder mit 40, mit 30 (vor einer Kurve), sogar mit 20. Eigentlich ideal für das Fahrrad, doch dann gibt es so viele Touristen-Vans und Busse, dass man sich doch nicht sicher fühlen kann.
Wir fahren in unserer eigenen Dimension, habe ich in einem Roman einmal geschrieben. Wir Radfahrer ohne Motor sind eine Zunft, eine Art Mönchsorden, eine Geheimgesellschaft. Wir sind leider vom Verschwinden bedroht. Das Tempo ist eines der Kennzeichen der Konsumgesellschaft. Durch die schnelle Bewegung wollen sie Dynamik ausdrücken, multitaskisch unterwegs sein und am liebsten überall zugleich. (Rechts: Eine Ministerin auf dem Rad. Das ist wohl Mara Carfagna, die ab 2008 in Berlusconis Kabinett für Gliechberechtigung zuständig war.)
In Deutschland gibt es heute 50 Millionen Autos für 84 Millioen Menschen. Man denke sich 8 Menschen mit je einem Fahrrad, sie könnten sich schön unterhalten; und man denke sich 8 Menschen mit ihren 5 Autos, neben denen sie verschwinden, zumal diese Autos oft riesige schwarze Limousinen sind. In ihnen wird man zum Knecht der Maschine, zum Cyborg; in ihnen verschwindet man. Mein Rad jedoch ist leichter als ich und so filigran!
Kleine Tiere sind häufiger als große Tiere. Es gibt mehr Hunde als Nilpferde und mehr Käfer als Raubvögel. In unserer Welt ist es anders. Fahr auf den Berg, und du wirst 10 anderen Radfahrern begegnen, aber wirst überholt von tausend Autofahrern. Auf dem Parkplatz des Supermarkts stehen 50 Automobile geparkt, doch nur 5 Fahrräder. So ist die Welt geworden.